Ins Leben zurückgerufen
unterhalten uns?«
Lächelnd hakte sie sich mit der Selbstsicherheit einer Frau bei Cissy Kohler unter, die nicht nur über die für ihren Beruf erforderliche Ausbildung verfügte, sondern zusätzlich eine Expertin in der Selbstverteidigung war. Sie gehörte zu der Generation, die weiß, daß man als Frau auf der Straße nie sicher ist.
Was sie nicht wußte – denn um das herauszufinden, gibt es nur eine Methode –, war, daß Stunden von Kung-Fu im Vergleich zu 27 Jahren in Santa Fu nur ein Spaziergang sind.
Ein Finger wurde ihr gegen den Hals gestoßen, so daß ihre Schilddrüse hart gegen den Kehlkopf gepreßt wurde. Sie würgte, japste nach Luft und versuchte zu schlucken, doch ihre Luftröhre blieb fest verschlossen, ihre Knie gaben nach, sie taumelte gegen den Jägerzaun und fiel wie ein Klappmesser darüber. Schließlich drang langsam und schmerzhaft wieder etwas Luft in ihre Lunge.
Sie richtete sich halb auf, wandte den Kopf um und sah mit tränenden Augen, wie die zierliche Frau mittleren Alters, die sie so mühelos zur Seite gefegt hatte, im Haus verschwand.
»Cissy Kohler?« sagte Marilou Bellmain. »O mein Gott.«
»Ja«, sagte Cissy. Sie kniff die Augen zusammen. »Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie sich damals für mich eingesetzt. Ich glaube, ich habe mich nie dafür bedankt.«
»Nein. Aber es macht nichts, ich … Was wünschen Sie?«
»Sagen Sie mir, Sie sind doch mit ihm verheiratet, stimmt’s? Haben Sie es an dem Wochenende in Mickledore Hall mit ihm gemacht? Hatte es da schon angefangen?«
»Aber nicht doch!« rief Marilou. »Ich kannte ihn ja kaum. Erst als wir uns in Mexiko begegnet sind … Aber wie komme ich dazu, Ihnen das zu erzählen?«
Die Frage war nicht nur rhetorisch gemeint. Es fiel ihr schwer, die Wirkung zu erklären, die die völlig normal aussehende Frau auf sie hatte. Sie strahlte Autorität aus, die Art Autorität, die durch eine außergewöhnliche Erfahrung entsteht – durch eine Reise zum Mond, einen Abstieg in die Hölle, ein Leben außerhalb der Zeit …
»Ich möchte Jamie sehen.«
Jamie … ? Niemand nannte ihn Jamie. Niemand, den sie kannte.
Sie holte tief Luft. Sie war Marilou Bellmain aus Williamsburg und befand sich in dem Haus, das ihre Familie vor mehr als zwei Jahrhunderten erbaut hatte und seither bewohnte. Auch das war eine Erfahrung, über die zu verfügen sich lohnte und die eine bestimmte Autorität hinterließ.
Sie sagte: »Miss Kohler, Cissy, Sie waren das Kindermädchen meines Stiefsohns; vielleicht haben Sie die erste Frau meines Mannes getötet, vielleicht auch nicht; Sie tragen mit Sicherheit ein gehöriges Maß an Verantwortung für den Tod seiner Tochter. Was gibt Ihnen das Recht, in mein Haus zu kommen und Forderungen zu stellen?«
Geduldig antwortete Cissy Kohler: »Bitte, würden Sie ihm sagen, daß ich hier bin?«
»Ich habe mitbekommen, daß du da bist, Cissy«, sagte Westropp.
Er stand in der Tür, seine Finger berührten leicht den Türknauf, einen anderen Halt hatte er nicht. Marilou fand, daß er wundervoll aussah, kräftiger und wacher, als sie ihn seit vielen Monaten gesehen hatte.
Dann sah sie Cissy Kohlers Gesicht. Verschwunden war die Gefängnismaske geduldiger Ausdruckslosigkeit. An ihre Stelle war ein lautloser Schrei aus Schock und Schmerz getreten. Cissy Kohler hatte Westropp 27 Jahre nicht gesehen. Vor ihrem geistigen Auge war die Zeit zwar nicht einfach stillgestanden, die schwarzen Haare waren angegraut, die glatte Stirn mit Falten durchzogen, die schmalen Schultern gebeugt, aber im Grunde war er derselbe geblieben. Dieses lange Knochengestell, dieses Pappmaché-Gesicht unter einer kahlen, verrunzelten Kuppel und diese Augen, die wie Wüstentierchen aus ihren Höhlen hervorlugten, hatten mit jenem Menschen nichts gemeinsam.
Einen Augenblick lang sah auch Marilou ihren Mann mit den Augen des Neuankömmlings, doch gleichzeitig bemerkte sie mit Erleichterung, daß der Blick ihres Mannes so intensiv an Cissy Kohlers Gesicht hing, daß ihm die Übertragung des Erschreckens auf ihr eigenes entgangen war.
»James, Cissy Kohler will dich besuchen«, hörte sie ihre forsche Stimme. »Miss Kohler, wollen Sie nicht hineingehen, und ich mache uns eine Tasse Kaffee.«
»Da ist doch noch der Kaffee, den du für unseren letzten Gast gemacht hast, der dann nicht bleiben wollte«, sagte Westropp. »Cissy, tritt ein und nimm Platz.«
Sie ging langsam ins Wohnzimmer. Sie hatte sich jetzt wieder unter
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