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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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ihm in die Haut, doch er blieb regungslos sitzen. »Dieser Junge hier und ich ... Wir hatten beide denselben Traum«, antwortete er. »Wir wollten etwas erleben und die Welt kennenlernen und es war einfach nur Zufall, dass ich es geschafft habe und nicht er. Es hätte auch anders kommen können, ganz anders.«
    Plötzlich konnte Jonathan den Anblick des Grabsteins nicht mehr ertragen. Die Panik, der er sich in der Kabineder Alaska ausgeliefert gefühlt hatte, packte ihn erneut. Doch jetzt war es nicht die Angst zu ersticken, sondern das Gefühl auseinanderzudriften, zerrissen zu werden oder zerschmettert, in tausend Mosaiksteine zu zerspringen, die sich nicht mehr zusammensetzen ließen. Er ballte die Fäuste, presste sie auf die Oberschenkel und starrte auf den Fjord, der von weißen Dreiecken übersät war, die er nicht als Segel erkannte.
    »Armer Pakkutaq«, hörte er Shary sagen und Tränen stiegen in ihm auf. Die Anstrengung, die es ihn kostete, nicht hemmungslos zu weinen, half ihm, die Panik zu bändigen.
    »Das ist alles lange her«, sagte er und stand auf. Den Blick immer noch auf den Boden gerichtet, bückte er sich und hob einen der Kiesel auf, die vor dem Grab im Heidekraut lagen, und schob ihn sich in die Tasche. »Lass uns gehen.«
    Als sie weitergingen und den Friedhof hinter sich ließen, nahm Shary wie selbstverständlich Jonathans Hand. Jonathan spürte ihr Mitgefühl und er konnte es kaum ertragen, weil er es nicht verdient hatte. Wie hatte er es fertiggebracht, seinen Vater so viele Jahre glauben zu lassen, dass er seinen Sohn auf dem Friedhof von Nuuk begraben hatte? All die Zeit hatte er so viel Angst gehabt, die Wahrheit zu sagen, Angst um sich selbst und sein falsches neues Leben.
    Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Er hörte diesen Satz so deutlich, dass er im ersten Moment glaubte, Shary hätte ihn ausgesprochen. Er rieb sich mit dem Handrücken über die Augen, um den Schleier loszuwerden,der ihm die Sicht auf die Stadt und den Fjord verwischte. Nein, es gab keinen anderen Weg. Es war gut, dass er hier war. Er musste wieder zu Pakkutaq Wildhausen werden, er musste seinem Vater die Wahrheit sagen. Er musste die richtigen Worte dafür finden und die Konsequenzen tragen. Er hatte gar keine Wahl.

Nuuk, Grönland, Frühjahr 2011
    Ich stand unter der Dusche und schrubbte mir den Krabbengeruch aus den Poren. In einer halben Stunde war ich mit Maalia am Bootsschuppen verabredet, sie hatte mich nach der Arbeit angesprochen. »Warum bist du weggelaufen, neulich Abend?«, hatte sie mich gefragt, »ich möchte dich ein bisschen besser kennenlernen, Pakkutaq.« Und dann hatte sie mir die Haare zurückgestrichen, mit den Lippen mein Ohr gekitzelt und mir Ort und Uhrzeit zugeflüstert.
    Ich versuchte mir vorzustellen, wie auch Maalia gerade duschte, sich die langen, schwarzen Haare mit Shampoo einseifte, die Brüste, den ganzen Körper, aber es ging nicht. Totaler Bildausfall. Nicht einmal in Gedanken schaffte ich es, sie auszuziehen. Ich ließ mir das heiße Wasser in den Nacken prasseln, seifte meinen Schwanz ein und fühlte mich mies. Es ging nicht, es hatte keinen Sinn, sich mit Maalia zu treffen, und ich wusste nicht, ob es an Maalia lag, an Grönland oder einfach nur an mir. Ich hatte überhaupt keine Lust, mich mit irgendeinem Mädchen zu treffen. Ich wollte meinen alten, ausgeleierten Trainingsanzug anziehen, mir ein paar Brote schmieren und mich mit einer Flasche Bier vor den Computer setzen. Ich wusste, dass das falsch war. Aber ich tat es trotzdem. Ich ließ Maalia dort draußen am Fjord warten, im Windschatten des Bootshauses. Ich versuchte nicht einmal,ihre Handynummer rauszukriegen, obwohl ich wusste, dass Aqqaluk die Nummer von Signe hatte, die ihm Maalias Nummer hätte geben können. Ich war nicht nur ein Versager, sondern auch ein Feigling.
    schön, dass du da bist
    ebenfalls
    hab dich gestern richtig vermisst ☺
    war im kino
    was gab’s?
    spiderman
    ehrlich?
    nein, einen horrorfilm, kennst du bestimmt nicht
    bestimmt nicht. wie alt bist du?
    siebzehn
    Plötzlich erschien es mir unwichtig, Spider etwas vorzutäuschen. Warum sollte er nicht wissen, wie alt ich war? Warum hatte ich eigentlich seit Wochen vermieden, ihn näher an mich ranzulassen? Er konnte mir ja nicht zu nahe kommen. Er war mehrere Tausend Kilometer von mir entfernt, getrennt durch ein ziemlich kaltes Meer, und das war das Einzige, was ich ihn nicht wissen lassen wollte. Ich hatte merkwürdigerweise Angst, dass

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