Ins Nordlicht blicken
aus.«
Zwanzig Minuten später saßen wir wieder bei Ingvar auf dem Sofa, tranken Bier und schauten uns einen Film an. Dieses Mal war es ein Horrorfilm, bei dem mehr Blut spritzte als bei einer Robbenjagd. Ich mochte keine Horrorfilme, genauso wenig, wie ich Ingvar mochte. Doch wo hätten wir sonst hingehen sollen? Den Film, der im Kino lief, hatten wir schon gesehen, bei Aqqaluk zu Hause war die Bude wie immer voll und bei uns saß mein betrunkener Vater in der Küche und wartete darauf, mit mir sein Imkergeschäft voranzutreiben.
Als ich nach Hause kam, war es fast Mitternacht. Ich schaltete trotzdem den Computer an. Aber Spider war nicht online. In Deutschland war es bereits vier Uhr morgens und er lag sicherlich längst in seinem Bett und schlief.
Nuuk, Grönland, Sommer 2020
Jonathan hatte die Bank, auf der Shary saß, hinter sich gelassen. »Ich schau mich mal um«, hatte er gesagt und war ein Feld entlanggegangen, auf dem sich schlichte weiße Holzkreuze aneinanderreihten. Er hatte die Namen und Daten überflogen und war weiter zu den wenigen Gräbern geschlendert, die in der traditionellen Art der Inuit mit Steinhaufen bedeckt waren. Danach kamen welche, auf denen Grabsteine standen, so wie es in Deutschland üblich war. Einige waren schon so alt, dass sie an Leute erinnerten, an die sich garantiert niemand mehr erinnerte. Die Inschriften waren kaum noch zu entziffern.
Jonathan wandte sich ab, um zu den Holzkreuzen zurückzugehen. Eigentlich waren sie ihm am sympathischsten. Sie verwitterten jedenfalls schnell und blieben kaum länger stehen, als die Zeit dauerte, in der die Menschen umeinander trauerten.
Doch plötzlich, mitten in der Bewegung, stockte er. Aus den Augenwinkeln hatte er etwas gelesen, das ihm den Atem raubte. Langsam drehte er sich zu dem Stein um, auf dem er die Worte gelesen hatte. Zwei Worte. Ein Name, den er so gut kannte wie keinen anderen. Mit wenigen Schritten war er bei dem Grabstein und starrte auf die Inschrift.
Pakkutaq Wildhausen
* 1994 † 2011
Jonathan fixierte die Buchstaben und Zahlen, aber sie verschwammen ihm hinter einem grauen Schleier. Die Erde bewegte sich, kam auf ihn zu. Er kniete auf dem struppigen Heidekraut nieder, um nicht zu stürzen. Pakkutaq Wildhausen. Gestorben 2011. Der allerletzte Zweifel, so aberwitzig und irrational er auch gewesen sein mochte, die völlig absurde Hoffnung darauf, dass alles nur ein Albtraum gewesen war, eine Wahnvorstellung, ein schlechter Trip, war zunichtegemacht. Pakkutaq Wildhausen hatte gelebt, siebzehn Jahre lang, er hatte Spuren hinterlassen, so wie den staubigen Stein hier. Jonathan berührte den kalten Granit mit den Fingerspitzen, tastete seine Oberfläche ab wie ein Blinder, und er begriff endgültig: An diesem Ort mitten in Nuuk, vor diesem Grab mit dieser Inschrift, gab es keine Selbsttäuschung mehr. Alles kluge Gerede darüber, dass Namen keine Bedeutung hatten, war eine Ausrede.
An dem Schatten, den das Mädchen über den Grabstein warf, erkannte Jonathan, dass Shary hinter ihm stand. Er hatte sie nicht kommen gehört, so versunken, wie er in seine Erinnerungen und Schuldgefühle gewesen war. Jetzt kniete sie neben ihm.
»Wer ist das?«, fragte sie leise. Ihre Stimme klang befangen.
»Pakku«, antwortete Jonathan.
»War er ein Freund von dir?«
Jonathan schluckte trocken. Er war sich nicht sicher, ob er auch nur ein einziges Wort herausbringen würde. Und so nickte er stumm.
»Er ist nur siebzehn Jahre alt geworden.«
»Ja.«
Shary kniete sich neben ihn und eine Weile war es still zwischen ihnen. Jonathan hörte die Möwen schreien, die über dem Fjord ihre Kreise zogen; er hörte den Wind rascheln in den Blättern der jungen Birken, die am Rande des Friedhofs standen. Ein Geräusch, das ihn verwirrte. Es passte nicht zu seinen Erinnerungen. In Nuuk hatte es keine Bäume gegeben, mit denen der Wind hätte spielen können.
»Und woran ist er gestorben?« Immer noch war Sharys Stimme voller Mitgefühl.
»Er ist ertrunken. Er wollte weg aus Nuuk, weg von Grönland, und weil er ein verdammter Idiot war, ist er dabei ertrunken.«
»Du bist nicht das erste Mal in Nuuk, nicht wahr?«
»Nein. Ich hab hier gelebt.«
»Aber du sprichst nicht gerne darüber ...«
»Ich bin hier nicht glücklich gewesen. Ich wollte diese Zeit einfach vergessen.«
»Hast du auch versucht, von hier wegzukommen, so wie dieser Junge hier, dein Freund?«
Jonathans Knie schmerzten von der ungewohnten Haltung, kleine Steine stachen
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