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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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stören. Dicht aneinandergeschmiegt schliefen Shary und er unter einer alten Felldecke in der Koje der Ivalu weiter.
    Als sie aufwachten, lag das Schiff bereits im Hafen von Qaqortoq. Fridjof hatte wohl schon jemand anders für den Abtransport der Kisten gefunden und war im Ort unterwegs, um ein paar Geschäfte zu erledigen, wie ihnen sein Kumpel erzählte. Die Ivalu sollte erst am Nachmittag nach Nanortalik weiterfahren.
    Jonathan war gespannt auf Qaqortoq, die größte Stadt Südgrönlands, in der allerdings gerade einmal 3500 Menschen lebten. Es galt als die Bildhauerhochburg Grönlands. Vor gut fünfundzwanzig Jahren hatten hier Künstler aus Nordeuropa gelebt und die Felswände im Ort bearbeitet. Er war in Hamburg einmal zu einem Vortrag gegangen, um einen der Bildhauer über das Projekt reden zu hören, und hatte ihm mit Beklemmung zugehört. Es war das einzige Mal gewesen, dass er so etwas wie Sehnsucht nach dem Land seiner Jugend zugelassen hatte.
    Als er jetzt mit Shary vor den steinernen Masken, Tieren und Fabelwesen stand, war ihm so deutlich wie nie bewusst, dass er den richtigen Beruf für sich gefunden hatte. Einen Beruf, der keiner Sprache bedurfte und in dem er ausdrücken konnte, wo er herkam und was ihn geprägt hatte, ohne Fragen beantworten zu müssen.
    »Die Künstlerin, die als Erste hier Bilder in die Felsen gehauen hat, heißt Aka Høegh«, erklärte er Shary. »Sie hat als Kind in Qaqortoq gelebt. Von klein auf hat sie in den Steinen Gesichter und Figuren gesehen.«
    »Ist dir das auch so gegangen?«
    Jonathan stieß die Luft durch die Nase aus. »Es gab Zeiten, da hab ich all das Grau und die vielen Steine gehasst. Und später hab ich damit angefangen, auf die Steine einzuklopfen, als wären sie schuld daran, dass ich von hier wegwollte.«
    »Ich hab mich dagegen immer nach Grönland gesehnt«, sagte Shary. »Meine Eltern haben mir oft vorm Einschlafen Geschichten erzählt. Sie wollten, dass ich die Mythenunseres Volks kennenlerne. Ich fand es schön, dass alles in der Natur eine Seele haben soll und dass die Seele des Menschen nach dem Tod weiterlebt, im Himmel oder im Meer oder über den Wolken.« Sie holte ihren Pocketpower aus der Tasche und machte ein paar Fotos von den Steinbildern. »Das wird meinen Eltern gefallen«, meinte sie. »Weißt du, sie wohnen in Kopenhagen mitten in der Stadt. Sie leben gerne dort, aber ich glaube, sie haben immer noch Sehnsucht nach Grönland, nach dem Schnee und sogar nach der Kälte ... Meinst du, dein Vater hatte auch Heimweh nach Deutschland?«
    »Weiß nicht.« Jonathan zuckte die Schultern.
    »Sollen wir mal losziehen und uns nach ihm erkundigen?« Shary hakte sich bei ihm unter. Sie hatte ihre Krücke an Bord gelassen und humpelte mittlerweile nicht mehr so stark.
    »Ich denke eigentlich, er ist in Nanortalik. Ich glaube nicht, dass wir ihn hier finden.«
    Jonathan sollte recht behalten. Auch in Qaqortoq trafen sie auf niemanden, der Peter Wildhausen kannte. Als sie den letzten Supermarkt abgeklappert hatten, nahmen sie ein Päckchen Fischfrikadellen mit und setzten sich damit an den Fjord. Jonathan half Shary, auf einen Felsstein zu klettern, der kaum kleiner als die bunten Holzhäuser des Ortes war. Eine Möwe zog neugierig einen Bogen über ihre Köpfe hinweg und Jonathan warf ihr den Rest seiner Frikadelle zu. In der Mittagssonne war es fast schon heiß und sie zogen ihre Jacken und Pullover aus und legten sich in T-Shirts auf den warmen Stein, Shary mit dem Kopf auf Jonathans Bauch. Es war ein nahezuperfekter Tag. Das einzig Störende waren die Mücken. In einer dichten Wolke hingen sie über dem Felsen und es war sinnlos, mit den Armen in der Luft herumzurudern, um sie zu verscheuchen.
    Als Shary zum x-ten Mal gestochen worden war, richtete sie sich auf. »Das ist Folter«, sagte sie. »Jetzt weiß ich auch, warum meine Mutter gesagt hat, ich soll mir unbedingt einen Mückenhut kaufen.« Sie rutschte auf dem Hintern den Stein hinunter und landete auf einem Bein. »Ich hab vorhin welche im Schaufenster gesehen.«
    Im Outdoorshop ließen sie sich Mückenhüte, Insektenspray und ein Moskitonetz für die Nacht geben. »Die kleine Grundausstattung«, meinte der Verkäufer. »Sonst werdet ihr aufgefressen.« Er schnipste eine Mücke von seinem nackten Unterarm. »Du kannst allem entkommen«, sagte er und klopfte auf die Zeitung auf seinem Tresen, die von der anhaltenden Dürre in Europa berichtete, »der Trockenheit, den Überschwemmungen, den

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