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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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und ich konnte erkennen, was er dachte. Es war zu spät. Das Schiff war dabei abzulegen. Es würde lange dauern, bis einer von uns Sven wieder zu Gesicht bekommen würde.
    Ich drückte auf Wahlwiederholung. »Sven«, sagte ich, als die Mailbox ansprang. »Alles okay. Vergiss den Anruf.«
    Grönemeyer schnappte mir das Handy aus der Hand. »Vergiss den Scheißtypen, Sven«, zischte er. »Ich schmeiß ihn über Bord, sowie wir auf See sind, das sag ich dir.« Er warf mir mein Handy zu, stand auf, holte eine Flasche Wasser aus einer der Kisten und reichte sie mir. »Hier, trink. Ich hab jetzt zu tun, ich kann wegen so einer Ratte wie dir nicht ewig hier rumsitzen.«
    Ich sah ihn fragend an. Was passierte jetzt mit mir? Was hatte er vor? Er würde mir nicht wirklich was tun, oder? Nicht dieser Typ mit seinem Bernhardinergesicht.
    »Du bleibst hier drin, bis wir in Hamburg sind. Zu trinken hast du genug und da hinten werden Äpfel gelagert.« Er stand schon in der Tür, als er sich noch mal umdrehte. »Du weißt, dass ich dich eigentlich dem Kapitän melden muss? Und dann sitzt du in vier Tagen im nächsten Flugzeugund den Rest deines armseligen Lebens zahlst du die Schulden ab.«
    »Ja, ich weiß.«
    »Du hörst es rechtzeitig, wenn jemand kommt. Mach sofort das Licht aus und versteck dich hinter den Lüftungsrohren, kapiert?«
    »Kapiert ...«
    Er kam noch einmal auf mich zu und beugte sich zu mir runter, so dicht, dass ich seinen faden Atem riechen konnte. »Lass dich ja nicht erwischen!«, sagte er, dann ging er, zog die Tür hinter sich zu und ich hörte, wie er zweimal den Schlüssel herumdrehte. Ich war gefangen. Gefangen, aber auch in Sicherheit. Ich hatte ein Riesenglück gehabt. So langsam begriff ich, dass ich diesem Herrn Grönemeyer mein Leben verdankte und meine Freiheit. Aber ich wusste auch, warum er mich nicht auffliegen ließ. Er hatte Angst, dass sein kleiner Handel mit Sven dann ganz genauso hochgehen würde. Ja, ich hatte ihn mindestens so in der Hand wie er mich.

Südwestküste Grönlands, Sommer 2020
    Nachdem sie im Hafen von Paamiut geholfen hatten, einen Teil der Kisten an Land zu schleppen, hatte Jonathan vor, sich den Ort anzuschauen. Doch Fridjof wollte sofort weiterfahren; er wollte noch in der Nacht bis Qaqortoq kommen. Jonathan hatte lediglich Zeit, um zum Brugsen zu laufen, ein paar Sandwiches zu kaufen und die Frau an der Kasse nach Peter Wildhausen zu fragen. Paamiut war klein, deutlich kleiner als Nuuk, keine zweitausend Menschen lebten hier. Und wenn es einen Ort gab, wo man seinen Vater kannte, dann war es sicher der Supermarkt. Doch die Kassiererin konnte sich nicht erinnern, seinen Vater gesehen zu haben, einen circa fünfzig Jahre alten Deutschen, groß und blond oder auch grauhaarig, wahrscheinlich Alkoholiker. Erst jetzt wurde sich Jonathan bewusst, dass er keinen Zweifel daran hatte, wie es seinem Vater heute gehen würde.
    Auf dem Rückweg zum Hafen sah Jonathan die Wohnblocks, die sich vor dem hellen Abendhimmel abzeichneten. Hässliche Klötze, wie jene, in denen Aqqaluk und Maalia gewohnt hatten. Sie schienen nicht mehr bewohnt zu sein. Mit blinden Fenstern und zugenagelten Eingangstüren standen sie als trostlose Ruinen mitten im Ort. Jonathan war froh, nicht in Paamiut bleiben zu müssen.
    Als sich die Ivalu ihren Weg durch das Labyrinth vonwinzigen nackten Felsinseln suchte, saßen Jonathan und Shary auf einer der Kisten und aßen ihre Sandwiches. Fridjof hatte ihnen ein paar Decken gebracht und Bier hingestellt, sich danach aber zu seinem Kumpel in die Kajüte verzogen. Der immer noch goldrot gleißende Himmel war den beiden Männern keinen Blick wert, dafür hatten sie das Schauspiel schon zu oft erlebt. Es war mittlerweile spät geworden und sie würden sicher erst gegen Mitternacht in Qaqortoq ankommen. Hier in Grönland verschwammen die Grenzen zwischen Tag und Nacht. Obwohl Jonathan nach der Schlepperei erschöpft war, verspürte er keine Müdigkeit. Shary hingegen rollte sich nach dem Essen auf der Kiste zusammen, die Surroundmütze über den Ohren und den Kopf auf seinem Schoß, und schloss die Augen.
    Auch Jonathan musste durch das Schaukeln des Schiffes eingeschlafen sein, denn als er hochschaute, spannte sich ein sternenbesprenkelter Himmel über dem Meer. Er war starr vor Kälte, genau wie Shary. Der Kapitän bot ihnen an, den Rest der Nacht in der Kajüte zu verbringen, und Jonathan war zu müde, um sich an der Enge und stickigen Luft in dem winzigen Raum zu

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