Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
Vom Netzwerk:
größten Katastrophen. Nur den Mücken nicht.« Mit der flachen Hand zerklatschte er eine spinnenbeinige Mücke auf der Zeitung und lachte. »Nun gut, die hat jetzt Pech gehabt. Aber im Großen und Ganzen sind sie unschlagbar. Man hat Insektenfossilien gefunden, die 350 Millionen Jahre alt sind, wusstet ihr das?« Dann erzählte er stolz von den Bienen, die er seit ein paar Jahren züchtete, und von seinem Honig, der besser wäre als alle Importware.
    Shary stülpte sich und Jonathan die unförmigen Hüte über den Kopf und bat den Verkäufer, sie zu fotografieren. Lachend schauten sie hinter ihren weißen Schleiern in das Kameraauge von Sharys Pocketpower. »Zwei Imkerin Grönland« nannte sie das Foto, das sie zusammen mit den Steinbildern an ihre Eltern schickte. Jonathan kam diese Begegnung wie ein Omen vor, das er nicht zu deuten wusste.
    »Vielleicht hat mein Vater ja doch so etwas wie Heimweh gehabt«, sagte er, als sie Richtung Hafen gingen. »Er hat davon geträumt, der erste Imker Grönlands zu werden. In der großen Reisetasche schleppe ich eine Honigschleuder mit mir rum, so ein Monster aus Aluminium. Wahrscheinlich ein total idiotisches Geschenk. Wenn er sich nicht komplett geändert hat, kann er sich nicht einmal mehr an seinen Traum erinnern.«
    Fridjof hatte schon auf sie gewartet und die Ivalu legte ab, kaum dass Jonathan und Shary an Bord waren. Wie am Tag zuvor war es ein milder, sonnendurchfluteter Spätnachmittag und Jonathan und Shary ließen sich wieder auf ihrer Kiste nieder. Shary holte ein Buch aus ihrem Rucksack. Doch Jonathan hatte keine Lust zu lesen. Seit dem Gespräch im Outdoorladen spürte er eine prickelnde Unruhe in sich. Das Gefühl, noch etwas erledigen zu müssen. Als er sich seine Jacke überzog und in die Tasche fasste, hatte er den großen glatten Kiesel in der Hand, den er auf dem Friedhof von Nuuk aufgehoben hatte. Das war es!
    Mit einem Kribbeln in den Fingern legte er den Stein auf die Kiste und holte aus seinem Gepäck das Etui mit dem Werkzeug, das er immer dabeihatte. Er wählte den feinsten Meißel und den kleinen Hammer aus. Dann setzte er sich abseits von Shary auf den Boden und begann mit der Arbeit. Er arbeitete konzentriert, ohne einmalaufzuschauen. Keine zwei Stunden brauchte er, dann hatte er ein Insekt in den Kiesel gemeißelt. Ein Insekt, das wie eine fossile Biene aussah, die in einem versteinerten Spinnennetz hing. Und ohne nachzudenken, wusste er, wie die winzige Skulptur heißen würde, so paradox der Name im ersten Moment auch sein mochte: Du kannst allem entkommen.
    Eine Ewigkeit hatte er nicht mehr an Spider gedacht, an den Fremden, der sein Leben auf den Kopf gestellt hatte. Doch jetzt war die Erinnerung an die einsamen Stunden, in denen er die Würfel hatte rollen lassen und mit Spider gechattet hatte, wieder lebendig. Sein Zimmer mit der dünnen Holzwand, hinter der sein Vater hustete und fluchte. Der bläulich leuchtende Bildschirm. Spider, irgendwo in Deutschland, der große Unbekannte. Die erste Zeit in Hamburg hatte er sogar von ihm geträumt, diffuse Träume, die mehr aus Gefühlen als aus Bildern bestanden, und dann war er irritiert und voller Wut aufgewacht. Aber inzwischen hatte er längst verstanden, dass Spider nur das Netz gesponnen hatte. Hineingeflogen war er von allein.

MS Alaska, Deutsche Bucht, Frühjahr 2011
    Ein paar Mal war ich drauf und dran loszubrüllen. Ich rannte in dem Lagerraum hin und her und biss mir auf die Faust, um nicht zu schreien. Grönemeyer hatte das Licht angelassen, so ein gnadenlos flackerndes Neonlicht, das mich schon in Svens Schuppen fertiggemacht hatte. In jeden Winkel meines Gefängnisses drang es, genauso wie das Dröhnen der Schiffsmotoren. Ich fand keine Ruhe, ich konnte nicht schlafen, mein Herz schlug ständig auf Hochtouren. Aber als ich das Licht ausschaltete und plötzlich in absoluter Dunkelheit stand, hielt ich es keine dreißig Sekunden aus. Die Angst fiel mich wie ein Raubtier an, die Angst, in einen Sarg gesperrt zu sein und elendig zu ersticken. Selbst der Gestank der toten Robben, der in meinen Klamotten saß, wurde plötzlich lebendig, sodass mir übel wurde. Und so ließ ich das Licht an und starrte auf die Getränkekisten, die sich bis zu der niedrigen Decke stapelten, und versuchte, sie zu zählen, um nicht durchzudrehen. Ich wollte nicht schreien. Um nichts in der Welt wollte ich entdeckt werden, nur weil mir die Nerven durchgegangen waren.
    Das Gefühl für Zeit war mir

Weitere Kostenlose Bücher