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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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trotzdem kein bisschen schuldig fühlt.
    »Nein, bisher nicht«, antwortete Jonathan. »Aber kann sein, dass er jetzt in Südgrönland lebt.« Er sprach diese Sätze mit Nachdruck. So, als müsste er sich selbst überzeugen, dass es sinnvoll war, mehrere Hundert Kilometer auf einem rostigen Kahn zurückzulegen, nur weil sein Vater vor Jahren dort im Süden einen seiner verrückten Träume geträumt hatte.
    »Und deine Mutter? Lebt die nicht mehr?«
    Jonathan schüttelte den Kopf. Und auf einmal hatte er es so satt, alles in sich einzusperren, alles für sich zu behalten, geizig mit der Wahrheit zu sein, vorsichtig und verstockt. Genau wie dieses Land hatte sein Innerstes Risse bekommen und Sharys Fragen bohrten sich hinein und ließen seinen Panzer brüchig werden.
    Den Blick auf die Küste gerichtet, begann er zu reden. Nicht von sich, aber von seinen Eltern. Mühsam holte er die wenigen Erinnerungen an das hervor, was ihm sein Vater einmal erzählt hatte, in einem ihrer wenigen wirklichen Gespräche. Er gab die Geschichte preis, als würde er den Inhalt eines Buches wiedergeben. Er erzählteShary, wie sein Vater auf der Suche nach dem großen Abenteuer nach Grönland gekommen war und dann herausgefunden hatte, dass man nicht einfach in Turnschuhen eine Eiswand hochsteigen kann, und wie er auf dieser missglückten Bergtour eine Frau kennenlernte und sich verliebte und im darauffolgenden Winter einen Sohn bekam und erleben musste, dass die Mutter seines Sohnes starb, bevor der Frühling kam.
    »Da war er ungefähr so alt wie ich jetzt«, sagte Jonathan, »Mitte zwanzig.«
    »Und was ist mit deiner Mutter passiert?«
    »Mein Vater hat gesagt, die Amis hätten sie auf dem Gewissen.«
    Shary zog die Augenbrauen hoch. »Was heißt das? Woran ist sie denn gestorben?«
    »An einer Überdosis Heroin.«
    Jonathan spürte, wie Sharys Hand sich zur Faust ballte. »Sie hat Drogen genommen, obwohl sie ein Baby hatte?«
    »Scheint so.«
    »Was für eine Scheiße!« Shary sah ihn mit einem Blick an, in dem Jonathan ungläubiges Entsetzen erkannte.
    Ja, wie sollte Shary etwas verstehen, das er selbst nicht begriff? Das Ausmaß an Hoffnungslosigkeit und Verlorenheit, das seine Mutter erlebt haben musste, konnte er nur ahnen. Sein Vater hatte nie wirklich darüber gesprochen, wie ihr Leben in Nuuk damals gewesen war. »Wir hatten eine Wohnung in Block P«, hatte er einmal gesagt, als reiche das als Erklärung dafür aus, dass sich ein Mädchen umbringt, das gerade ein Kind zur Welt gebracht hat. Aber vielleicht reichte es tatsächlich aus, so ein Lebenauf fünfundvierzig Quadratmetern, in einem Haus, in dem jeder Hundertste Bewohner dieses riesigen Landes wohnte, so ein enges, quadratisches, heimatloses Leben. Vielleicht hatte sie versucht, wegzukommen von diesem Leben, zu flüchten, genau wie er selbst. Nur dass sie einen Weg gewählt hatte, auf dem sie nicht entkommen konnte.
    »Das muss schlimm für deinen Vater gewesen sein«, sagte Shary. Sie drehte sich zu Jonathan um und strich ihm mit den Fingern die Falte zwischen den Augenbrauen glatt. »Mach dir keine Sorgen. Bestimmt wird er sich freuen, dich wiederzusehen.«
    Jonathan antwortete nicht. Ihm war ein Bild in den Sinn gekommen. So wie jetzt mit Shary hatte er einmal neben seinem Vater gestanden, Seite an Seite, auf einer ihrer Fahrten nach Nanortalik. Es war genau so ein milder Sommerabend gewesen, an dem die Sonne groß und glänzend über dem Meer hing und das Wasser wie geschmolzenes Gold aussah. Und plötzlich war ein riesiger Finnwal aus dem Gold aufgetaucht, nicht weit vom Schiff hatte er sich aus dem Meer erhoben, einsam und unbesiegbar, ein Wesen aus einer anderen Zeit, und die schwimmenden Eisberge hatten ihm ganz selbstverständlich Platz gemacht. Noch als das Meer längst wieder glatt und glänzend dalag, hatten sein Vater und er voller Ehrfurcht auf das Wasser geschaut, wo der Wal wieder in seine Welt hinabgetaucht war. Es war einer der schönsten Momente gewesen, die er in all den Jahren in Grönland erlebt hatte. Wie hatte er ihn so völlig vergessen können?

MS Alaska, Hafen von Nuuk, Frühjahr 2011
    Mir war übel, kotzübel. Das Geschaukel der Kiste, als sie an Bord gerollt wurde, das Schwanken des Schiffes, die elende Enge, bei der ich mir die Oberschenkel in den Magen presste, der grässliche Geruch, den auch Maalias Gewische nicht hatte verhindern können. Aber das war nichts im Vergleich zu der Angst, die in mir hochkroch. Ich lauerte darauf, ob noch

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