Ins Nordlicht blicken
konnte geradezu riechen, dass auch er Angst hatte, vielleicht weil er nicht wusste, was er tun sollte. Ich antwortete nicht, ich wagte kaum zu atmen, und wir belauerten uns wie Boxer vor dem ersten Angriff. Seine schmalen schwarzen Augen waren ausdruckslos und trotzdem war es, als könne ich seine Gedanken lesen. Als er die Lippen zusammenpresste und den Blick senkte, wusste ich, was er dachte. Er würde mich nicht gehen lassen. Er hatte sich entschlossen, michzu verraten. Die Erkenntnis, dass er mir alles versauen würde, jetzt, wo wir beinahe in Deutschland waren, traf mich wie ein Schlag in den Magen.
Ich handelte, ohne nachzudenken. Ich stürzte mich auf ihn, um ihn von der Tür wegzustoßen, um rauszukommen, zu fliehen, abzuhauen. Doch ich war zu langsam. Die endlosen Stunden hier unten hatten mich mürbe gemacht. Er wich mir aus, packte mein Handgelenk, und bevor ich kapierte, was passierte, lag ich am Boden, mit verrenktem Arm, das Gesicht auf dem kalten Metall, die spitzen Knie des Jungen im Rücken. Ich hörte seinen hektischen Atem über mir.
»Du kommst mit. Du kommst mit mir zum Kapitän!«
Ich versuchte, mich umzudrehen, aber er hatte mich in der Zwinge. Er kugelte mir fast den Arm aus. »Lass mich gehen.« Ich wollte nicht betteln, aber ich tat es trotzdem, ich winselte wie ein kleines Kind. »Bitte!«
Der Druck ließ nach, ein bisschen nur, aber es reichte, dass ich meinen Arm losreißen und mich auf den Rücken wälzen konnte. Der Junge reagierte sofort, er griff nach meinen Handgelenken, kniete links und rechts auf meinen Oberarmen und drückte zu. Er war jetzt über mir, die glatten schwarzen Haare hingen ihm ins Gesicht. Er schleudert sie mit einer schnellen Kopfbewegung nach hinten.
»Du hast keine Chance«, sagte er und es klang wie eine Feststellung, völlig ohne Spott, so wie Aqqaluk es immer gesagt hatte bei unseren Ringkämpfen im Schnee. Doch dies hier war kein Spiel, es ging um mein Leben, um mein ganzes verdammtes Leben.
Du hast keine Chance, Pakku. Du schaffst es nicht. Du wirst es niemals schaffen. Es war so verdammt wahr, dass mir schlecht vor Enttäuschung wurde. Ich schluckte das gallige Zeug runter, das mir in der Kehle brannte. Was hatte dieser Mistkerl davon, wenn er mich verriet? Warum konnte er nicht einfach so tun, als hätte er mich nicht gesehen?
Ich starrte zu ihm hoch, in sein braunes, glattes Gesicht. Erst jetzt nahm ich wahr, dass er kein Grönländer war, so wie ich im ersten Moment gedacht hatte. Nein, er war so ein asiatischer Kung-Fu-Typ. Auch Aqqaluk hätte gegen den nichts zu melden gehabt. Ich konnte nur versuchen, ihn zu überreden, mich nicht zu verraten. »Warum lässt du mich nicht gehen? Es kann dir doch egal sein, was ich mache.« Ich schaffte es, nicht zu stöhnen, obwohl er mir fast die Oberarme zerquetschte.
»Ist mir auch egal«, sagte er in seinem Pidgin-Englisch. »Aber das ist Chance für mich . Wenn ich gute Arbeit mach, krieg ich vielleicht festen Job.«
Gute Arbeit! Das hieß, wenn er mich beim Kapitän verpfiff! Dieser miese Verräter! Heiße Wut wallte in mir auf. Ich riss die Beine hoch und rammte ihm die Knie in den Rücken. Das ist meine Chance, kapierst du? Ich werde es schaffen! Ich! Pakkutaq Wildhausen! Ich trampelte und bäumte mich auf, gegen den Scheißtypen und gegen das Scheißschicksal, hatte plötzlich einen Arm frei, hatte etwas in der Hand, das am Boden gelegen hatte, und schlug zu, einmal, zweimal, ich weiß nicht, wie oft. Ich traf den Jungen am Hinterkopf. Er hockte immer noch auf mir drauf, riss Mund und Augen mit einem Ausdruck auf, alswollte er mich warnen, und dann sackte er zur Seite und gab meine Beine frei. Ich hatte ihn erschlagen, ich hatte ihn mit dem Becher erschlagen, Milch rann mir über das Handgelenk wie weißes Blut und ich schaute den Jungen an, wie er da mit dem Gesicht auf dem Boden lag, so wie gerade eben noch ich dort gelegen hatte, die schwarzen Haare wie ein Tuch über dem Gesicht. Er bewegte sich nicht mehr und ich wusste, dass ich ihn getötet hatte. Ich hatte das nicht gewollt. Ich wollte doch nur nicht zurückgeschickt werden. Ich wollte doch nur eine Chance haben, eine Chance auf mein eigenes Leben.
Nanortalik, Südspitze Grönlands, Sommer 2020
Jonathan hatte über seiner Arbeit gar nicht mitbekommen, dass die Ivalu bereits auf Nanortalik zusteuerte, durch eine Schärenlandschaft aus unzähligen Felsinselchen. Damals, als er mit seinem Vater unterwegs gewesen war, hatte es Heerscharen von
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