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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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abhandengekommen. Der Akku meines Handys war leer und in dem fensterlosen Raum konnte ich nicht erkennen, ob es Tag oder Nacht war. Ich aß von den Äpfeln, die in den Kisten an der Wand gelagert wurden. Wenn ich Durst hatte, trank ich Wasseroder Limonade. Wenn ich pinkeln musste, tat ich das in die leeren Flaschen hinein, die ich wieder zuschraubte und in die Kiste zurückstellte. Bei der Vorstellung, dass irgendwann einem der feinen Passagiere meine Hinterlassenschaft serviert werden würde, brach ich in ein irres Kichern aus, das ich nur stoppen konnte, weil Schritte auf der Metalltreppe zu hören waren. Die Schritte draußen, durch die ich aufgescheucht wurde, waren meine einzige Abwechslung. Jedes Mal, wenn ich jemanden hörte, verkroch ich mich schnell wie eine Ratte in meinem Versteck hinter den Lüftungsrohren. Doch niemand ließ sich hier unten in der Vorratskammer blicken. Nur Grönemeyer kam ein paarmal, um Getränke oder Äpfel zu holen. Ich konnte ihn durch den Spalt zwischen den beiden Rohren erkennen. Er tat so, als wüsste er nichts von meiner Existenz, keinen einzigen Blick warf er in meine Richtung.
    Irgendwann packte ihn wohl ein Anfall von Menschlichkeit. Als er mir die Tür aufschloss, muss es mitten in der Nacht gewesen sein, denn er schien keine Angst zu haben, dass uns jemand sehen könnte. Er ließ mich auf die Toilette gehen, die am anderen Ende des Ganges war. Auf dem Rückweg holte er mir Milch in einem klobigen angeschlagenen Becher und zwei Scheiben Brot mit Käse. Während er mir zusah, wie ich das Zeug verschlang, erzählte er mir, dass ich in Nuuk gesucht wurde. Er hatte im Internet den grönländischen Sender KNR geschaut, wo sie über einen Siebzehnjährigen berichtet hatten, der seit drei Tagen als vermisst galt. Seit drei Tagen? So lange waren wir also schon unterwegs. Es konnte nicht mehr als einen Tag dauern, bis die Alaska in Hamburg ankam.
    »Ich bring dich in einer der Kisten von Bord. Und dann will ich nie wieder was von dir hören, weder in Deutschland noch in Grönland noch sonst irgendwo auf der Welt!«
    »Klar«, sagte ich. »Nie wieder.« Ich war ihm wirklich dankbar, dass er mich nicht verraten hatte, auch wenn ich wusste, dass er das für sich und nicht für mich tat.
    Als Grönemeyer wieder abgezogen war und die Tür hinter sich verschlossen hatte, rannte ich die zweieinhalb Meter hin und her, die zwischen den Kisten Platz waren. Höchstens einen Tag noch! Einen einzigen langweiligen Tag nur noch, dann würde ein völlig neues Leben beginnen. In Hamburg, in Deutschland. Ich versuchte, mir dieses Leben auszumalen, aber es ging nicht. Meine Vorstellungskraft endete an der hellgrauen Stahltür, die mich hier drinnen vom Rest der Welt trennte. Selbst meine Erinnerungen funktionierten nicht. Da kamen keine Bilder mehr, kein grönländischer Himmel, kein Nordlicht, auch Aqqaluk und Maalia nicht, alle Dateien schienen durch die Monotonie meines Gefängnisses gelöscht zu sein.
    Die Schritte auf der Treppe hörte ich viel zu spät. Ehe ich bei den Lüftungsrohren war, verstummten sie und der Schlüssel klackte im Schloss, einmal, zweimal. Ich betete, dass es Grönemeyer war. Vielleicht wollte er den Becher wieder mitnehmen, der noch auf dem Boden stand, damit ihn nicht aus Versehen jemand hier herumstehen sah. Bitte, lass es Grönemeyer sein!
    Ich sah, wie die Klinke heruntergedrückt wurde. Dann ging die Tür auf. Doch es war nicht Grönemeyer, der da vor mir stand. Es war ein Junge in der dunkelblauen Uniformder Alaska, ein Junge, nicht viel älter als ich. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
    »Was machst du hier?«, fragte er.
    »Was machst du hier?« Ich wiederholte seine Frage, vielleicht übernahm ich sogar den weichen Akzent, mit dem er Englisch gesprochen hatte. Ich wollte ihn nicht nachmachen oder hochnehmen. Mir fiel vor lauter Schreck nur nichts anderes ein.
    »Ich will Servietten holen.« Der Junge sah mich misstrauisch an.
    »Servietten?«
    »Ja. Papierservietten.«
    Ein paar Sekunden standen wir uns stumm gegenüber und in diesen Sekunden erkannte ich, dass er langsam begriff, wen er da vor sich hatte. Jemanden, der Angst vor ihm hatte. Angst, entdeckt zu werden. Einen blinden Passagier. Er machte einen Schritt zurück, sodass er mit dem Rücken an der Tür stand.
    »Wie bist du hier reingekommen?« Seine Stimme klang unsicher. Wie die eines Typen, der es gewohnt war, herumkommandiert zu werden und Fragen zu beantworten, anstatt selbst welche zu stellen. Ich

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