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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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Schutz vor den unzähligen Mücken um die Schultern gelegt. Auf Aqqaluks Gesicht spiegelte sich die Verwirrung wider, in die ihn Jonathans Beichte gestürzt hatte. Er wippte auf den Zehen hin und her und reckte sich, als müsste er nach dem Paddeln seine Muskeln lockern. Jonathan registrierte, dass sie immer noch gleich groß waren. Soweit er zurückdenken konnte, hatten Aqqaluk und er die gleiche stämmige Statur gehabt. Wenn er selbst ein paar Zentimeter gewachsen war und ihm seine Hosen zu kurz geworden waren, hatte Aqqaluk höchstens ein Vierteljahr gebraucht, um ihn einzuholen.
    Merkwürdig, dass ihm dieses Detail auf einmal einfiel: In der ersten Zeit in Hamburg war er so schnell gewachsen, dass ihm die schwarze Stoffhose, die er getragen hatte, als er von Bord der Alaska ging, schon nach einigen Wochen nicht mehr gepasst hatte. Es war, als hätte er sich beeilt, die Hose des toten Jungen abstreifen zu können wie eine zu eng gewordene Schlangenhaut.
    »Es war kein Mord, Pakku.« Aqqaluk klang, als ob er nach langer Überlegung zu einem Entschluss gekommen war. »Es war Totschlag. Das ist bestimmt inzwischen verjährt.«
    »Totschlag verjährt erst nach dreißig Jahren. Das sind noch einundzwanzig.« Jonathan faltete seine Decke ordentlich zusammen und drückte sie Aqqaluk in die Hand. »Ich weiß, was du denkst«, sagte er. »Nein, ich habe keine Angst, dass du mich erpressen könntest, Aqqa.«
    »Wie kannst du dir da sicher sein? Ich hab diesen Deutschen erpresst und auch Sven.«
    »Ich bin es einfach.«
    Aqqaluk zögerte einen Moment, dann nickte er. »Lass uns zum Hotel zurückgehen«, sagte er. »Vielleicht ist deine Freundin schon wach.« Er warf die Wolldecken achtlos in den Bootsschuppen und schloss die Tür. »Shary, schöner Name ... Weißt du, Pakku, was du für einen Namen tragen solltest?«
    »Schon wieder ein neuer Name?«
    »Atsiaq.«
    »Was bedeutet das?«
    »Der, der nach einem Toten benannt wurde.«
    »Ich überleg es mir«, sagte Jonathan.
    »Tu das.« Aqqaluk lachte, ließ Jonathan stehen und ging den Weg vom Schuppen zurück zur Uferpromenade des Fjords. Als Jonathan ihn eingeholt hatte, sprach er mit dem gleichen, leicht spöttischen Tonfall weiter. »Und was bedeutet Jonathan?«
    »Geschenk Gottes.«
    »Ehrlich?«
    »Ja.«
    »Da scheinst du ja richtig Glück gehabt zu haben.« Aqqaluk boxte Jonathan gegen die Schulter und ging weiter. Jonathan folgte einen halben Schritt hinter ihm. Er verstandnicht, was Aqqaluk mit seiner Bemerkung gemeint hatte. Glaubte er etwa, dass Gott ihm diese zweite Identität geschenkt hatte? Nein, Aqqaluk hatte noch nie an einen Gott geglaubt, der Schicksal spielt, genauso wenig wie er selbst. Sein Leben als Jonathan Querido war ihm von niemandem gegeben worden. Er hatte es sich genommen, er allein trug die Verantwortung.
    Auf dem Weg zum Hotel stellte Aqqaluk Jonathan ein paar Fragen zu seiner Bildhauerei. Jonathan beantwortete sie nur kurz und oberflächlich. Er hatte das Gefühl, dass Aqqaluk nur aus Höflichkeit gefragt hatte. Es war, als wäre alles zwischen ihnen gesagt worden, alles, was wichtig war. Sie waren sich nah und vertraut, und trotzdem war es sinnlos, so zu tun, als ob sie die Alten geblieben wären. Sie hatten verschiedene Wege eingeschlagen und sie lebten in Welten, die nicht viel gemeinsam hatten. Als sie schließlich vor dem Tresen der Rezeption standen, gähnte Aqqaluk. »Ich leg mich aufs Ohr«, sagte er. »Was hast du morgen vor?«
    Erst jetzt fiel Jonathan auf, dass er Aqqaluk noch gar nichts von seiner Suche nach seinem Vater erzählt hatte. Er berichtete ihm kurz von seinen vergeblichen Nachfragen.
    »Weißt du, wo er lebt, Aqqa? Hast du ihn jemals wiedergesehen? Ist er hier in Nanortalik?«
    Aqqaluk zog die Schultern hoch und ließ sie mit einer Miene des Bedauerns wieder sinken. »Ich denke, er ist damals hierhin gegangen; er wollte wirklich mit dieser verrückten Bienenidee loslegen. Aber ob er noch hier ist? Keine Ahnung.« Er lachte kurz auf. »Weißt du, Pakku, daseigentlich Verrückte daran ist, dass es gar nicht verrückt war. Echten Grönlandhonig kriegst du heute in Nuuk im Delikatessenladen. Da macht zwar keiner ein Vermögen mit, aber ...« Er brach ab und verzog das Gesicht wieder zu einem ungenierten Gähnen. Dann legte er Jonathan die Arme um die Schultern und klopfte ihm auf den Rücken. »Viel Glück«, sagte er. »Viel Glück bei allem, was du tust, Jonataq.«
    Er ließ ihn los und ging auf Shary zu, die in der

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