Ins Nordlicht blicken
Schwingtür aufgetaucht war, die zu den Hotelzimmern führte. »Guten Morgen«, sagte er. »Hat mich gefreut, dich kennengelernt zu haben.« Er deutete eine Verbeugung an, winkte Jonathan zu und verschwand im dunklen Flur des Hotels.
Jonathan schoss eine vage Vorstellung davon durch den Kopf, dass er Aqqaluk seine Visitenkarte geben sollte oder ihn zumindest nach seiner Handynummer fragen müsste. Aber dieser Gedanke verflog so schnell, wie er gekommen war.
Beim Frühstück in der kleinen Cafeteria des Hotels war Shary ungewöhnlich ernst. »Jonathan ... Du und Aqqaluk und dieser Junge, der in Nuuk auf dem Friedhof liegt, ihr wart alle drei Freunde, nicht wahr?«, fragte sie. »Seid ihr deshalb gestern Abend so deprimiert gewesen?«
»Deprimiert? Findest du, dass wir deprimiert waren?«
»Ja. Ich glaube, ihr wolltet nicht über ihn sprechen. Hab ich recht?«
Es dauerte einige Sekunden, bis Jonathan antwortete. Sekunden, in denen er die Chance verstreichen ließ, Shary die Wahrheit über Pakkutaq Wildhausen zu sagen.
»Es stimmt, wir waren beide nicht gut drauf«, sagte erschließlich. »Vielleicht, weil ... weil so viel Zeit seit damals vergangen ist. Zeit, in der so viel passiert ist. Wir haben uns verändert, Aqqaluk und ich. Wir sind nicht mehr die Freunde, die wir mal waren. Es ist sinnlos, so zu tun, als ob die Uhr stehen geblieben wäre.«
Er schaute zum Fenster hinaus auf die Straße. Sein Blick fiel auf einen alten Mann in einem zerschlissenen Trainingsanzug, der in einem Papierkorb herumstocherte. Er holte irgendetwas Brauchbares hervor, das er eingehend prüfte, bevor er es in eine seiner Brugsentüten stopfte.
Jonathan konnte den Blick nicht von ihm lösen. Von seiner gebeugten, hageren Gestalt und den bemüht konzentrierten Bewegungen eines Alkoholikers, die das Zittern unterdrücken sollten. Bewegungen, die er immer und überall erkannte. Der Mann schien zu spüren, dass er beobachtet wurde, denn plötzlich blieb er stehen und starrte zurück. Er richtete sich auf und musterte Jonathan mit einem teilnahmslosen Gesichtsausdruck. In der nächsten Sekunde drehte er sich um und schlurfte weiter. Jonathan schaute ihm nach, bis er ihn nicht mehr sehen konnte. Er spürte eine beißende Wut in sich hochsteigen, ohne zu wissen, wem diese Wut galt.
»Und vielleicht ist es auch sinnlos, dass ich versuche, meinen Vater zu finden«, sagte er.
Hamburg, Frühjahr 2011
Von dem Moment an, als Jonathan seinen neuen Namen ausgesprochen hatte, ließ er sich von einer seltsamen Gleichgültigkeit treiben. Mit dem Entschluss, Grönland zu verlassen, hatte er zum ersten Mal in seinem Leben versucht, einen Plan durchzuziehen und sein Schicksal selbst zu bestimmen – und das hatte zu einer Katastrophe geführt. Jetzt war es, als hätte ihn ein lähmendes Gift befallen.
Er folgte dem fremden Mann durch die Wohnung zu einem Zimmer, von dem er nur das Bett mit der schneeweißen Decke wahrnahm. Es dauerte nicht mehr als eine Sekunde, dann lag er quer auf dem Doppelbett. Im Einschlafen bekam er mit, dass der Mann ihn auszog. Die Schuhe, die Uniformjacke, die regennasse Hose. Er hörte, wie die Jalousie heruntergelassen wurde, wie der Mann hinausging, den Fernseher einschaltete. Dann sackte er weg. Für eine kurze Zeit schlief er wie betäubt ohne Vergangenheit, ohne Gegenwart und ohne Zukunft.
Als der Mann ins Zimmer kam und sich neben ihn legte, tauchte er aus der Bewusstlosigkeit auf. Er wusste sofort, wo er war. Er nahm die Anwesenheit des Mannes überdeutlich war. Das leichte Auf und Ab der Matratze, als er sich bewegte. Das Geräusch seines zu lauten Atems und die Wärme, die von ihm ausging.
»Jonathan? Bist du wach?«, flüsterte der Mann. Er hattedie Tür zum Flur aufgelassen und das Licht nicht ausgemacht, sodass ein breiter Lichtstreifen aufs Bett fiel. Jonathan lag auf der Seite, mit dem Rücken zu ihm, und starrte auf die Staubpartikel, die im Licht wie feinste Schneeflocken taumelten.
»Schläfst du schon?« Er spürte die Hand in seinem Nacken, genauso leise, genauso kriechend wie die Stimme, und er schloss die Augen. Die Finger tasteten sich weiter nach unten, die Muskeln neben der Wirbelsäule entlang bis zur Hüfte, sie streiften ihn wie eine Feder.
Jonathan atmete die Luft, die er angehalten hatte, so geräuschlos wie möglich aus. Er konzentrierte sich auf seinen eigenen Atem, auf das Gefühl, das der kaum wahrnehmbare Luftzug in seinen Nasenflügeln verursachte, auf seinen Herzschlag, auf nichts
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