Ins Nordlicht blicken
Schlaf.
Als er aufwachte, hatte er das Gefühl, kaum geschlafen zu haben. Doch durch die Vorhänge drang helles Morgenlicht. Das Bett neben ihm war leer, und als er aufstand, um nach Shary zu suchen, fand er sie beim Frühstück auf der Holzveranda.
»Guten Morgen«, sagte sie.
Er setzte sich neben sie, schenkte sich ein Glas Wasser ein, trank es in einem Zug aus und seufzte.
»Ist schon okay, Jonathan.« Sharys Stimme klang belegt.So, als wäre eben nicht alles okay. »Du brauchst dich nicht vor mir auf dem Klo zu verstecken. Ich kann dich absolut in Ruhe lassen, wenn du willst.«
Jonathan seufzte noch einmal tief. »Es tut mir schrecklich leid, Shary«, sagte er. »Ich ...«
Sie lächelte ein schiefes Lächeln. »Ist schon okay«, wiederholte sie.
Dann frühstückten sie, ohne viel miteinander zu reden. Vor ihnen lag der Tasermiut Fjord, auf dessen tiefblauem Wasser ein Eisberg schwamm, der sich aus einer anderen Welt hierher verirrt zu haben schien. Er sah wie ein vergessenes Kinderspielzeug aus, das auf einem See vor sich hindümpelte.
»Wie lange es wohl dauert, bis so ein Eisklotz schmilzt?«, fragte Shary schließlich und natürlich wusste Jonathan, dass sie ihn damit meinte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Aber irgendwann ganz bestimmt.«
»Willst du heute noch mal nach deinem Vater suchen?«
Jonathan nickte. Er hatte beschlossen, sich eines der Daylightmobile auszuleihen, um in die entfernteren Ecken von Nanortalik zu fahren. Der Ort erstreckte sich bis zur Ostküste der Insel und es gab eine ganz neue Schotterstraße, auf der man die Randbezirke erreichen konnte.
»Ich bleibe hier«, sagte Shary. »Ich werde einfach auf der Terrasse sitzen und nichts tun als lesen und Kaffee trinken.«
»Also gut.« Jonathan stand auf. »Dann gehe ich duschenund mach mich danach auf den Weg.« Er blieb noch einen Moment unschlüssig stehen.
»Viel Glück, Jonataq«, antwortete Shary und Jonathan warf ihr einen verunsicherten Blick zu. Hatte sie mit Absicht fast die gleichen Worte benutzt wie Aqqaluk am Morgen zuvor? Ahnte sie vielleicht mehr, als er dachte?
Hamburg, Frühjahr 2011
Er war allein im Zimmer, die Nacht war vorbei, der Mann hatte ihn nicht angefasst. Er hatte ihn in Ruhe gelassen. Jonathan konnte ihn hören, wie er in der Küche das Frühstück vorbereitete. Eine Espressomaschine brodelte, es roch nach Toast und Kaffee und heiler Welt.
Jonathan hatte seit dem Abend regungslos auf der Seite gelegen, jetzt tat ihm der rechte Arm weh. Er richtete sich auf und schaute sich um. Vor einem schwarzen Ledersessel lag die Kleidung, die er getragen hatte, dahinter füllte ein weiß lackierter Schrank die gegenüberliegende Wand aus. Der Raum wirkte kahl und kühl, als wollte er durch nichts von dem Kunstwerk ablenken, das neben dem Fenster stand. Eine fast mannshohe Statue, die Andeutung eines nackten Mannes, flüchtig herausgehauen aus einem rötlichen Stein, fast so, als wäre der Künstler noch nicht fertig mit der Arbeit.
»Guten Morgen.«
Jonathan drehte sich zur Tür. Der Mann aus dem Schachcafé stand in Jeans und T-Shirt im Zimmer. Ein Geruch nach Seife und Rasierwasser vermischte sich mit dem Kaffeeduft, der von dem Tablett ausging, das er in den Händen hielt. »Dein Frühstück«, sagte er, »lass es dir schmecken.«
Während Jonathan den Toast und die Rühreier aß, zog der Mann die Jalousie hoch und nahm die Kleidung vomBoden, um sie auf einen Sessel zu legen. Erst jetzt sah Jonathan, dass das Ledermäppchen mit dem Ausweis und der Bordkarte auf dem Teppich gelegen hatte. Der Mann schob es in die Tasche der Uniformjacke. Mit dem Jackett in der Hand setzte er sich ans Fußende des Bettes.
»Du hast geschlafen wie ein Toter«, sagte er. »Ist alles in Ordnung?«
Jonathan rührte sich Zucker in den Kaffee und antwortete nicht. Er kam sich vor, als wäre er dem prüfenden Blick eines Arztes ausgesetzt, und fühlte sich schrecklich, so wie er dalag, mit nacktem Oberkörper und fettigen Haaren, noch immer nach Schweiß und Dreck stinkend.
»Entspann dich«, sagte der Mann. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich will nichts von dir. Du bist schließlich erst siebzehn.« Er schnipste gegen die Jackentasche, in der sich der Ausweis befand.
Jetzt hob Jonathan den Blick. »Ach ja, wirklich?«, sagte er. »Das weißt du doch schon länger, oder nicht?«
Der Mann kräuselte die Stirn.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du schwul bist? Glaubst du, dann wäre ich nicht gekommen? Da
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