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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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seinen Landsleuten in Nuuk begegnet war.
    Sorgfältig faltete ich das Papier zusammen und steckte es mir in die Brusttasche. Ich würde dem Mann das Geld zurückzahlen, freiwillig. Ich würde etwas tun, was mein Vater nie im Leben gemacht hätte. Aber ich war nicht mehr der Sohn meines Vaters. Ich war nicht mehr Pakkutaq Wildhausen und ich musste damit aufhören, an das zu denken, was ich zurückgelassen hatte. Ich war Jonathan Querido, und je schneller ich das kapierte, umso besser.
    Es war kurz nach zwanzig Uhr, als ich die Tür aufdrückte und die Kneipe betrat, in der ich mit Spider verabredet war. Warme Bierluft schlug mir entgegen. Das Lokal war ziemlich voll, jedenfalls im unteren Stockwerk. Eine Treppe führte zu einer Galerie hoch und auch dort saßen Leute. Ein einziger der kleineren Tische neben der Treppe war noch frei. Ich ließ mich auf den Stuhl sinken, lehnte den Kopf gegen einen Balken und schloss die Augen. Mein Kopf war leicht und leer wie ein Ballon und ich war dankbar, ihn anlehnen zu können, damit er mir nicht davonflog. Das Gewirr der Stimmen summte um mich herum wie ein Bienenschwarm und lullte mich ein. Ich rieb mir das Gesicht. »Man erkennt sich immer, wenn man will«, hatte Spider gesagt. Aber dafür musste man zumindest die Augen aufhaben, oder nicht? Schade, ich hätte gerne einfach nur ein wenig geschlafen.
    Als der Kellner mich fragte, was ich trinken wollte, bestellte ich einen Kaffee. Während ich darauf wartete, dass er wiederkam, schaute ich mich um. Saß Spider hier irgendwo und beobachtete mich? Hatte er gesehen, wie ich hereingekommen war? Wo war er? Ich stand auf, ging durchs ganze Lokal und auf die Galerie, von der aus man alles gut überblicken konnte. An allen Tischen, die ich unauffällig inspizierte, saßen mindestens zwei oder drei Leute. Nur an der Theke hockten ein paar Typen, die anscheinend solo waren. Schach spielte niemand. Aber dafür wurde umso mehr gegessen. Der Anblick all der Teller mit Steak und Bratkartoffeln weckte meinen Hunger. Die Scheibe Brot, die mir Grönemeyer gebracht hatte, war das Letzte gewesen, was ich gegessenhatte. Grönemeyer. Das war in einem anderen Leben gewesen.
    An dem Tischchen neben meinem saß ein Paar, das sich wegen irgendwas herumstritt. Sie hatten ihre Teller zur Seite geschoben und umklammerten ihre Biergläser, während sie sich leise angifteten. Unter einer zerknüllten Serviette guckte eine Currywurst hervor, die sie kaum angerührt hatten. Und bevor ich noch denken konnte, hatte ich schon gehandelt und stopfte mir die Wurst in den Mund. Mit gesenktem Blick starrte ich in meine Kaffeetasse, bis ich den letzten Bissen hinuntergeschlungen hatte. Dann schaute ich hoch. Ich sah direkt in die Augen eines Mannes, der an der Theke saß. Er hatte mich beobachtet, meinen Diebstahl, mein Schlingen, meinen Hunger und das Schamgefühl, das plötzlich heiß in mir brannte. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Dann hob er sein Glas und prostete mir zu. Er trank Rotwein, so wie ich es immer vermutet hatte.
    Ansonsten hatte ich ziemlich danebengetippt. Er sah völlig anders aus, als ich gedacht hatte, besser, cooler, wenn auch nicht unbedingt jünger. Kurz geschorene graue Haare, schwarzer Anzug, schwarzer Rollkragenpulli und richtig feine Lederschuhe. Ich wischte mir den Rest Currysoße mit dem Handrücken ab und kam mir vor wie der letzte Idiot. Sollte ich ihm mit meiner leeren Kaffeetasse zuprosten? Wieder lächelte er mich an, dann drehte er sich zur Theke um und sprach mit dem Wirt. Eine Minute später kam er mit seinem Weinglas in der einen und mit einer großen Laugenbrezel in der anderen Hand an meinen Tisch.
    »Das Steak wird eine Weile dauern. Nimm erst mal die Brezel.« Mit diesen Worten setzte er sich zu mir und stellte sein Glas ab.
    »Danke.« Ich schaffte es, ungefähr zwei Sekunden zu warten, bis ich die Brezel packte und sie hinunterschlang. Der Kellner brachte mir eine Cola, die ich in einem Zug austrank. Ich sah ausgehungert und gierig aus, egal wie sehr ich mich zusammenriss, das war mir klar. Spider saß mir gegenüber, nippte an seinem Rotwein und gab sich nicht die geringste Mühe, seine Neugier zu verbergen. Er schaute mir beim Essen zu, ohne ein einziges Mal den Blick abzuwenden. Es war ein abschätzender Blick. Erst in diesem Moment wurde mir klar, dass ja auch Spider ein bestimmtes Bild von mir gehabt haben musste. Und der Typ, der ihm jetzt gegenübersaß, in einer Schiffsuniform, mit fettigen Haaren

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