Ins Nordlicht blicken
anderes. Es war das Einzige, was ihm vertraut war. Er dachte daran, wie die trächtigen Eisbärenweibchen im Winter in ihren Geburtshöhlen liegen, ruhiggestellt, ihre Atemfrequenz geht zurück, ihr Herz schlägt langsamer, so können sie Monate in der Kälte überleben, ohne sich zu bewegen. Die Eisbärin trägt Leben in sich, es gibt einen Grund, weshalb sie wieder aufwacht. Er jedoch lag starr und leer in seiner Höhle. Wenn er ein Bild gemalt hätte, das seinem Zustand entsprach, wäre es das einer einsamen Eisscholle gewesen. Losgelöst und ziellos trieb sie immer weiter in ein unbekanntes Meer.
Nanortalik, Südspitze Grönlands, Sommer 2020
Auch in Nanortalik brachte die Tour, die Jonathan und Shary durch die Supermärkte, Kneipen und Parks machten, keinen Hinweis auf Peter Wildhausen. Am Nachmittag saßen sie erschöpft auf einer Bank am Fjord. Jonathan, der die Nacht zuvor nicht geschlafen hatte, war müde und Shary tat der Fuß weh.
»Vielleicht können wir jetzt endlich mal ins Hotel zurückgehen?«, sagte Shary. Seit dem Morgen war sie ungewöhnlich schweigsam gewesen und Jonathan spürte, dass sie sich ein Stück von ihm zurückzog. Seine verdammte Unfähigkeit, mit ihr zu reden, ihr zu erklären, was hinter dieser ganzen Suche steckte, was mit ihm los war, stand wie eine unsichtbare Wand zwischen ihnen.
Jonathan legte ihr den Arm um die Schultern, während sie auf das Hotel zugingen. Und auch als sie sich nebeneinander auf dem schmalen Doppelbett ausstreckten, lag sie in seinem Arm, mit dem Kopf an seiner Schulter. Wortlos schauten sie sich einen Film im Fernsehen an und aßen die Chips, die sie in einem der Supermärkte gekauft hatten. Sie hatten die Vorhänge zugezogen, um die Sonne auszusperren, und als der Film zu Ende war, gähnte Jonathan und gab vor, schlafen zu wollen. Doch dann lagen sie Seite an Seite und er hattedie Augen weit offen. Natürlich konnte er nicht schlafen. Er war hellwach. Als Shary sich zu ihm drehte und ihn zu streicheln begann, ließ er es geschehen. Er genoss die Berührung ihrer Hände; es erregte ihn, wie sie mit ihren Fingerspitzen unter sein T-Shirt glitt, seinen Bauchnabel umkreiste, zu seiner Brust hochwanderte. Er atmete ihren Geruch ein, spürte ihre Lippen an seinem Hals, ihre Hand streifte wieder über seinen Bauch, die Hitze, die von ihr ausging, brachte seine Haut zum Glühen.
»Jonathan«, flüsterte sie. Und plötzlich hielt er es nicht mehr aus. Abrupt löste er sich aus ihren Armen, stand auf, stolperte ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Er saß auf dem Klodeckel, den Kopf in den Händen vergraben, und lauschte auf das Hämmern seines Herzens. Was für ein Idiot war er nur! Was für ein Feigling! Shary war wunderbar. Sie war schön und aufregend und warmherzig. Er brauchte nur für eine halbe Stunde ohne sie zu sein, dann vermisste er sie, ihre unverstellte Fröhlichkeit, ihre Offenheit und Neugier, die Berührung ihres Körpers, wenn sie sich bei ihm einhakte, ihre Nähe, ihren Geruch, ihr Lachen, das Schimmern ihrer schwarzen Augen, einfach alles. Aber warum versteckte er sich dann hier vor ihr in diesem armseligen Badezimmer? Warum konnte er sich nicht auf sie einlassen? War es, weil sie ihn an Maalia erinnerte, an all das, vor dem er davongelaufen war? Sie hatte doch nichts mit Grönland zu tun, sie kannte das Land weniger als er. Sie war in der Großstadt aufgewachsen, sie würde nicht hierbleiben, auf der Insel. Sie gehörte genausowenig hierher wie er selbst. Sie war nicht Maalia, verdammt noch mal.
Oder hatte er sich verschanzt, gerade weil er dabei war, sich in Shary zu verlieben? Weil er es nicht fertigbrachte, jemanden an sich heranzulassen, der ihn für Jonathan Querido hielt? Weil er nicht wollte, dass sie sich in ihn verliebte, solange er nicht wusste, wer er eigentlich war? Mann, wie oft schon hatte er andere Menschen auf Abstand gehalten und vor den Kopf gestoßen, wenn sie seine Nähe suchten? Wann hatte er sich jemals wirklich auf eine Frau eingelassen?
»Jetzt komm doch da raus, verdammt noch mal ... Jonathan!« Durch die geschlossene Tür hindurch konnte er hören, dass Shary wütend auf ihn war. Wütend und verletzt.
Doch er fühlte sich machtlos. Er blieb so lange auf dem Deckel der Toilette sitzen und wartete hinter der verschlossenen Tür, bis er davon ausging, dass Shary eingeschlafen war. Dann legte er sich neben sie, und obwohl er angespannt und unglücklich war, sank er nach wenigen Minuten in den
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