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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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Irren in einer Uniform, der kurz davor war durchzudrehen?
    Im selben Moment hielt ein Taxi direkt vor meinen Füßen. Der Fahrer beugte sich zu mir, die Autos hinter ihm hupten, er winkte mir zu, mich zu beeilen, und ich stieg ein. Erschöpft ließ ich mich in die Lederpolster sinken.
    »Reeperbahn, okay?« Der Mann drehte sich zu mir um und grinste mich an. »Girls? Okay?«
    Es dauerte eine Sekunde, bis ich begriff, was er meinte. »No«, antwortete ich, »no girls. Schachcafé am Rübenkamp.«
    Ich sah, wie er die Schultern zuckte. Mit seinem breiten, speckigen Nacken sah er ein bisschen aus wie Sven. »Schachcafé«, wiederholte er, »kein Problem.« Dann gab er Gas und ich rutschte tiefer in den weichen Sitz. Der Wagen war eine Höhle, eine warme, schummerige Höhle. Aus dem Radio wimmerte Jazzmusik, der Motor und die Welt da draußen waren kaum zu hören. Es dauerte keine zwei Minuten, dann konnte ich mich nur noch mit Mühe wach halten. Vor meinem Fenster verwischten die Lichter und ich riss die Augen auf. Ich durfte nicht einschlafen, ich musste mich zusammenreißen. Ich war nicht der kleine Lord, der zum Schloss seines Großvaters kutschiert wurde. Ich war ein ausgemusterter Schiffsjunge ohne einen einzigen Cent in der Tasche. Mit vor Müdigkeit brennenden Augen starrte ich auf die Digitalanzeige, die erbarmungslos die Euros aufleuchten ließ, die ich dem Mann da vor mir schuldete. Keine Ahnung, wie viel das eigentlich in Kronen war, aber das war auch egal. Ich konnte sowieso nicht bezahlen.
    Ich rutschte ein wenig höher in meinem Sitz. »Ist es noch weit?«
    »Höchstens fünf Minuten.« Im Rückspiegel sah ich die Augen des Taxifahrers. Er hatte mir nur einen kurzen Blick zugeworfen und dann wieder auf die Straße geschaut. Wir fuhren durch eine Gegend, in der nicht mehr so viel los war wie am Hafen, aber im Vergleich zu Nuukwar es das Paradies. Im Licht der Straßenlaternen konnte ich weit ausladende Bäume erkennen, es waren Kastanien. Ich hatte nicht viel Ahnung von Bäumen, aber diese hier kannte ich von früher. Die Blätter waren noch eingerollt, doch ich wusste noch, wie schön sie aussahen, fast wie Hände. Wir hatten so einen Baum im Garten gehabt, es war der größte Baum der Welt gewesen. Wenn ich auf der Schaukel saß, konnte ich so hoch fliegen, dass ich über die Büsche und Bienenkästen hinweg die Bahngleise sah. Im Herbst hatte ich aus den Kastanien kleine Tiere gebastelt, die meine Großmutter auf der Fensterbank aufbewahrt hatte, bis ihre runden Bäuche schrumplig wurden. Plötzlich kamen mir die Tränen, weil mir die Leute in Grönland so leidtaten. Aqqaluk, Anga, Maalia, sogar Ingvar. Sie alle hatten noch nie eine Kastanie in der Hand gehabt. Mit zusammengepressten Lippen kämpfte ich die albernen Tränen runter und versuchte, an etwas anderes zu denken.
    Der Taxifahrer drehte sich zu mir um. »Alles in Ordnung?«
    Ich nickte und verzog mein Gesicht zu einem falschen Grinsen. Nichts war in Ordnung. Anstatt mir zu überlegen, wie ich aus diesem Taxi rauskam, ohne zu bezahlen, heulte ich vor Rührung über ein paar Bäume. Ich war wirklich ziemlich fertig. Ich wischte mir die Tränen mit dem Ärmel meiner Uniformjacke ab, aber es kamen immer mehr. Sie ließen sich genauso wenig aufhalten wie der Regen, der jetzt in dicken Tropfen auf die Windschutzscheibe fiel.
    »Was ist los, Junge?« Der Fahrer fuhr in eine Parkbuchtund hielt an. »Da vorne ist schon das Schachcafé«, sagte er. Es klang, als wollte er mich damit trösten.
    »Ich kann nicht bezahlen.« Jetzt schluchzte ich wie ein kleines Mädchen. Aber ich war viel zu erschöpft, um mich dafür zu schämen. Ich hatte einen Punkt erreicht, an dem so etwas wie Peinlichkeit keinen Platz mehr hatte. Vielleicht war das der Anfang vom Ende, der erste Schritt auf dem Weg nach unten. Irgendwann hielt ich fremden Leuten einen Plastikbecher vor die Nase, weil ich Geld zum Weiterleben brauchte. Durch die Tränen hindurch erkannte ich, wie der Mann mich musterte. Meine Uniformjacke, mein verheultes Gesicht, meine schwarzen, struppigen Haare.
    Zwei Minuten später stand ich auf dem Fußweg, mit einer Rechnung in der Hand, und schaute dem Taxi hinterher, bis die roten Rücklichter nur noch zwei leuchtende Flecke unter vielen waren. Ich konnte es kaum glauben, dass der Mann so nett zu mir gewesen war, obwohl er wie Sven ausgesehen hatte und dazu noch ein Deutscher war. »Das sind alles kleinkarierte Spießer«, hatte mein Vater immer gesagt, wenn er

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