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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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und schwarzen Eskimoaugen, war sicher nicht das, was er sich vorgestellt hatte.
    »Wie lange hast du nichts gegessen?«, fragte er, als ich mit der Brezel fertig war.
    »Weiß nicht.«
    »Willst du noch was trinken? Noch eine Cola? Oder lieber einen Drink? Wie alt bist du eigentlich?« Er saß mit verschränkten Armen da und musterte mich wie ein Forscher ein seltenes Tier.
    »Wie alt bist du denn?« Ich musste allmählich mal raus aus der Defensive. Aber die Frage hing noch im Raum, als mir auch schon klar war, wie kindisch trotzig sie klang. Und überhaupt – hatten wir das nicht alles schon mal am PC abgekaspert?
    Spider lachte. »Alt genug«, antwortete er. Er sah mich über den Rand seines Glases hinweg an.
    Plötzlich hatte ich diese Spielchen so dermaßen satt, dass ich hätte schreien können. Mann, ich war einfach am Ende. Ich wollte nur noch essen, trinken, schlafen und in Ruhe gelassen werden. Ich lehnte wieder den Kopf an den Balken, schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als der Kellner mir mein Steak und ein Bier hinstellte. Ohne einmal aufzuschauen, schaufelte ich die Bratkartoffeln in mich hinein. Dann erst machte ich mich über das Steak her, das zu zäh war, um es schnell hinunterzuschlingen. Ich achtete nicht mehr auf Spider, es war mir egal, ob er mich beobachtete. Er interessierte mich nicht. Ich war zu müde, um darüber nachzudenken, was dieser Typ von mir wollte.
    Als ich fertig war, zahlte Spider. »Komm«, sagte er, »bevor du hier am Tisch einschläfst. Du kannst bei mir schlafen, ich wohne hier gleich um die Ecke.«
    Er half mir hoch wie einem alten betrunkenen Sack und schob mich auf die Tür zu. Weil ich nicht nach vorne schaute, stolperte ich. Spider packte mich am Arm. »Hoppla«, sagte er. Das kam mir bekannt vor. Das hatte ich auch einmal gesagt. Plötzlich fiel mir die Wanderung im Qinguadalen ein, bei der ich meinen besoffenen Vater durch die Landschaft geschleppt hatte, durch das Tal, wo er seine Bienenzucht starten wollte. Als Spider die Tür aufdrückte, drehte ich mich noch mal um. Ich wollte klarstellen, dass ich nicht betrunken war, ganz bestimmt nicht, ich hatte ja nur ein einziges Bier gehabt.
    »Hey! Ich bin der Bienenkönig!«, rief ich. »Ich bin der Bienenkönig! Ist das klar?« Die Leute guckten mich an und ich fing an zu kichern. Ich kicherte immer noch, als Spider mich die Straße hinunterschleppte, den Arm um mich gelegt, seine Hand fest unter meiner linken Achsel. Ein heftiger Regen fegte mir ins Gesicht. Ich zitterte vor Lachen und Kälte.
    »Wieso ist es so kalt? Wir sind doch in Deutschland, oder?«
    Ich bekam nicht mit, ob Spider antwortete. Irgendwie musste er mich zu seinem Haus geschleppt haben, denn auf einmal schob er mich in die Kabine eines Aufzugs und drückte mich gegen die Metallwand, damit ich nicht wegrutschte. Auch das kannte ich von irgendwoher ... Die Alaska ... Der Lift ... Wir schwebten nach oben und mir wurde übel.
    »Komm«, sagte Spider, »ein paar Schritte noch.« Er half mir durch die Aufzugstür, die hinter uns zusirrte. Für einen Moment ließ er mich los. »Nur der Ordnung halber: Wie heißt du eigentlich?«
    Ich sah ihn an, kniff die Augen zusammen, um das Bild scharf zu stellen, und konzentrierte mich darauf, nicht zu lallen. »Ich? Ich bin ... ich bin Jonathan Querido. Auferstanden von den Toten. Jo-na-than. Schöner Name, oder nicht?« Wieder musste ich lachen.
    Aber Spider lachte nicht mit. »Es ist alles okay«, antwortete er. Er bugsierte mich auf eine der Türen zu und schloss auf. Als ich hinter ihm die warme Wohnung betrat, seufzte ich. An der Wand gegenüber der Tür hing ein riesiges Schwarz-Weiß-Foto, das ich im ersten Moment füreine Schneelandschaft hielt, bis ich erkannte, dass es die Aufnahme eines zerwühlten Bettes war.
    In meinem müden, erschöpften und völlig überdrehten Hirn breitete sich die Erkenntnis wie in Zeitlupe aus: Ich war gerade dabei, mit einem Schwulen die Nacht zu verbringen. Mit einem Typen, der einen Siebzehnjährigen in seine Wohnung schleppte. Aber warum auch nicht? Ich war nicht mehr ich. Und die Vorlieben von Jonathan Querido kannte ich nicht.
    Der fremde Mann schaute mich an und lächelte. »Hör mal. Was immer mit dir auch los sein mag«, sagte er, »du brauchst keine Angst zu haben, Jonathan. Vor mir nicht.«

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