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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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hast du recht, Mann.« Jonathans Stimme klang kühl und leidenschaftslos.
    »Ich hatte nicht den Eindruck, dass du gestern Abend in der Lage warst, Alternativen zu erwägen. Du warst völlig fertig.«
    Jonathan kniff die Augen zusammen. »Die Alternativen hätte ich weitaus früher erwogen ... Spider.« Er spuckte das Wort aus wie ein schal gewordenes Kaugummi.
    »Spider ...?« Für einen Moment saß der Fremde da, alswüsste er nicht, wie er sich in seinem eigenen Schlafzimmer zu verhalten hatte. Jonathan spürte, wie irritiert er war, und er fing an zu begreifen.
    »Scheiße«, sagte er und schloss die Augen. Doch dann öffnete er sie wieder und sah den Mann an. »Oder auch nicht. Scheißegal eigentlich, wer du bist.«
    »Ich heiße Lloyd.« Der Mann grinste.
    »Nice to meet you«, antwortete Jonathan. Er fasste unter die Decke, um zu fühlen, ob er zumindest seine Unterhose anhatte, und stand auf. »Und wo geht’s zur Toilette?«
    »Komm.« Lloyd zeigte ihm das Badezimmer, wo Jonathan pinkelte und sich die Hände wusch. Er hätte gerne geduscht, traute sich aber nicht, die Sachen des Fremden zu benutzen. Als er aus dem Bad kam, saß Lloyd in der Küche.
    »Deine Klamotten sind total dreckig. Wenn du willst, kannst du frische haben«, sagte er und führte Jonathan durch den an die offene Küche grenzenden Wohnbereich, der größer war als jedes Zimmer, das er je gesehen hatte. Inmitten einer Bücherwand befand sich eine Tür, durch die man in ein weiteres Apartment kam. Lloyd zeigte ihm ein zweites Bad und daneben ein Zimmer mit Schlafcouch, Kleiderschrank, Fernseher, Computer und einem E-Piano.
    »Du findest sicher etwas Brauchbares«, sagte er und deutete auf den Schrank. Doch Jonathan hatte sich schon wieder umgedreht und stand in der halb geöffneten Tür des Zimmers gegenüber.
    »Willst du das Atelier sehen? Geh ruhig rein.« Lloyd nickte ihm aufmunternd zu. Dann ging er voran in einenhellen Raum, der offensichtlich die Werkstatt eines Bildhauers war. Mehrere unbehauene Steine lagen auf dem Boden, in den Regalen war sorgfältig Werkzeug sortiert, in der Mitte stand auf einem Sockel eine ähnliche Männerplastik, wie Jonathan sie in Lloyds Schlafzimmer gesehen hatte.
    Jonathan strich über den rauen Stein. »Bist du Künstler?«
    Lloyd legte den Finger unter das steinerne Kinn der Statue, als wollte er sie zwingen, den Kopf zu heben. »Ich bin Architekt. Das Atelier hat ein Freund von mir benutzt«, sagte er, drehte sich abrupt um und ging in das Zimmer mit dem E-Piano zurück. »Dies hier ist mein Gästezimmer«, sagte er zu Jonathan, der ihm gefolgt war. »Du kannst erst mal hierbleiben, wenn du willst.«
    Jonathan schaute aus dem Fenster hinunter auf die baumbestandene schmale Straße, auf der jetzt, um die Mittagszeit, nur eine alte Dame mit ihrem Hund unterwegs war. »Und was ist mit deinem Freund?«, fragte er.
    »Er ist nicht mehr mein Freund.« Lloyd machte eine kurze Pause. »Du kannst gerne alles benutzen, in diesem Teil der Wohnung. Im Schrank findest du Sachen, die dir halbwegs passen müssten. Fühl dich wie zu Hause.«
    »Danke«, sagte Jonathan. Er zeigte auf den Computer. »Brauche ich ein Passwort?«
    »Ja«, antwortete Lloyd. »Es heißt Rodin.«
    »Wie?«
    »Rodin ... R O D I N.« Lloyd buchstabierte überdeutlich. »Das war ein Bildhauer.« Er ging zur Tür. »Ich hab zu tun, Jonathan. Ich seh dich dann beim Mittagessen.«
    Als Lloyd das Zimmer verlassen hatte, schaltete Jonathan den PC an. Während der Computer hochfuhr, durchforstete er den Schrank nach frischer Wäsche und ging ins Bad. Er stopfte seine Unterhose in den kleinen Mülleimer und stellte sich unter die Dusche.
    Eine Viertelstunde später saß er am Computer, in den zu weiten Jeans eines fremden Mannes, und lud die Seite mit den Internetspielen hoch, die er in seinem früheren Leben so oft besucht hatte. Zum letzten Mal in seinem Leben loggte er sich als Bienenkönig ein und klickte den Button »Freunde« an. Die Person, die sich Spider nannte, war online.

Nanortalik, Südspitze Grönlands, Sommer 2020
    Jonathan hatte seine Nachforschungen nur mit halbem Herzen gemacht. Im Grunde war er sich nicht sicher gewesen, dass sie zu nichts führten, außer vielleicht dazu, dass er auf diese Weise Gelegenheit hatte, in so einem Daylightmobil herumzukutschieren. Doch dann, als er an einer Tankstelle angehalten hatte, um die lichtabsorbierende Schicht des Wagens von toten Insekten zu befreien, war er auf Mikael Aariak gestoßen.

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