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Ins offene Messer

Ins offene Messer

Titel: Ins offene Messer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Baker
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geworden?»
    «Keine Ahnung», sagte Geordie. «Muß wohl nach Hause gegangen sein. Sie bleiben doch nicht lange weg, oder?»
    «Fünf Minuten. Setz den Kessel auf, mach dir was zu trinken. Das wird dich aufwärmen.»
     

Kapitel 47
     
    Es regnete auch in Leeds, nicht stark, aber immerhin. Jean Granger hörte sich die letzten Worte ihres Guru an und begann in einem Haufen verstaubter Cassetten herumzuwühlen, von denen die meisten seit Jahren nicht mehr gespielt worden waren. Manche hatten noch ihre Hüllen, aber die meisten waren kaputt und viele besaßen weder Hüllen noch Etiketten. Unmöglich zu sagen, was sich darauf befand. Eines Tages würde sie alle sortieren, Etiketten draufkleben, neue Hüllen besorgen und sie in alphabetischer Reihenfolge in den Schrank räumen. Aber nicht heute.
    Aus irgendeinem Grund ging ihr Leonard Cohens Suzanne durch den Kopf, aber sie konnte das Stück nicht finden und begnügte sich statt dessen schließlich mit Famous Blue Raincoat. Irgendwo mußte da auch Suzanne sein, wahrscheinlich auf einer der Cassetten ohne Etikett. Aber, dachte sie, als der Sound aus den Lautsprechern kam, es war nicht unbedingt Suzanne, das sie wollte, es war vielmehr der Klang seiner Stimme. Sie hatte sie seit Jahren nicht gehört.
    Bob hatte erzählt, irgendwer auf der Arbeit habe gesagt, Leonard Cohen lebe noch und habe ein neues Album herausgebracht. Jean hatte seit Jahren nicht mehr an Leonard Cohen gedacht, aber als sie noch sehr jung war, hatte sie ihn für den idealen Mann gehalten. Wie sie ihm jetzt zuhörte, da fragte sie sich, ob überhaupt jemals jemand so jung sein konnte.
    Sie drehte sich einen kleinen Joint, dicht gestopft, und machte es sich auf einem Kissen auf dem Boden bequem. Später würde sie irgendeine Hausarbeit erledigen, ein bißchen meditieren und danach kochen, bevor Bob von der Arbeit nach Hause kam. Jetzt mußte sie erst mal entspannen.
    Irgendwer damals in der Hausgemeinschaft hatte immer solche Musik gehört. Jean konnte sich nicht mehr erinnern, wer das gewesen war, einer von den Männern, entweder Terry Deacon oder Steve Bright. Schwer, sich vorzustellen, daß jetzt beide tot waren. Ermordet. Es war Steve, der immer Platten von Leonard Cohen und Neil Young gehört hatte. Terry hörte sich dieses Klassikzeugs an, und ein paar andere Sachen, die sehr alt waren, Klavier und Laute. Während ihrer kurzen Affäre hatte Terry Lautenmusik aufgelegt, wenn sie sich liebten, er hatte immer Witze darüber gemacht: zupfen und hupfen. Jean lächelte. Jetzt konnte er weder das eine noch das andere. Sie fragte sich, ob er denselben Witz auch bei Jane gebracht hatte, zupfen und hupfen. Wahrscheinlich hatte er’s bei allen Mädchen angebracht.
    Jean war noch Jungfrau, als sie in die Hausgemeinschaft kam, aber am Schluß hatte sie mit jedem geschlafen. Sie trug grüne Strümpfe, und wenn Steve diesen Song von Leonard Cohen spielte, sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie er hieß, also, wenn dann diese Zeile kam, sah jeder Jean an und lachte. Es war eine lockere Zeit, voller Lachen und Tränen. Gefühle, jeder hatte Gefühle, jede Menge Gefühle. Gefühle einfach überall. Wann immer man sich umdrehte, war da wieder eins.
    Mit Graham hatte sie natürlich nicht geschlafen, und Gott sei Dank, wenn er wirklich ein Massenmörder war. Aber sie hatte es einmal auf ihn abgesehen, als sie fast eine ganze Flasche Wein ausgetrunken hatte. War sie damals umgekippt? Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was passiert war. Sie hätte mit ihm geschlafen, wenn er es gewollt hätte, damals schien es wichtig zu sein, daß sie mit jedem im Haus schlief, mit allen Männern. Es war eine Gemeinschaft. Es war ihr Beitrag dazu.
    Seitdem hatte sie mit niemandem außer Bob geschlafen. Der Gedanke, mit jemand anderem zu schlafen, war ihr nie in den Sinn gekommen. Schon komisch, praktisch über Nacht von hundertprozentiger emotionaler Promiskuität zu totaler Monogamie zu wechseln. Oder vielleicht war’s auch überhaupt nicht komisch. Man tat, was man konnte. Bei nichts davon ging es eigentlich um Sex, weder bei der Promiskuität noch bei der Monogamie. Es ging vielmehr darum, im Augenblick zu leben, sich in den wirbelnden Räumen des Kosmos zu identifizieren und das zu sein, was immer dieses das im jeweiligen Augenblick auch bedeutete. Graham East, ihr Leben mit Bob, grüne Strümpfe, zupfen und hupfen, es war alles dasselbe.
    Jean drehte sich noch einen. Vielleicht würde sie das Haus morgen in Ordnung bringen.

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