Insel aus Stein: Mittsommerglück (German Edition)
gegen Ende des Romans beinahe einem Autounfall zum Opfer fallen zu lassen. Denn dasselbe Schicksal hatte dann später Annika ereilt – mit dem Unterschied, dass sie nicht knapp mit dem Leben davongekommen war …
Nach Annikas Tod war ihm dann einfach alles entglitten. In der ersten Zeit war er nicht in der Lage gewesen, auch nur eine einzige Zeile zu Papier zu bringen. Zu groß war die Trauer und der Schmerz über den Verlust. Damals war seine einzige Rettung gewesen, dass er vorgearbeitet hatte und der Vorgänger von
Einsame Herzen
bereits fertig in der Schreibtischschublade lag. Ansonsten wäre ihm wohl schon viel früher nichts anderes übrig geblieben, als der Realität ins Auge zu blicken: Er konnte nicht mehr schreiben. Wenigstens nicht mehr so, wie er es früher einmal gekonnt hatte.
Ein paar Wochen nachdem Annika aus seinem Leben gegangen war, hatte er versucht, seine Arbeit wieder aufzunehmen. Doch es war ihm einfach nicht gelungen. Obwohl die Story eigentlich schon so gut wie erzählt war, hatte er es einfach nicht geschafft, sie zu Ende zu bringen. Jeden Tag hatte er es sich aufs Neue vorgenommen und war doch stets gescheitert. So war Seite um Seite, Kapitel um Kapitel hinzugekommen, der Roman war gewachsen und gewachsen, bis er schließlich nur noch geschrieben hatte, um sich selbst einzureden, dass er nach wie vor daran arbeitete. Vielleicht wäre es das Beste gewesen, einfach die Karten auf den Tisch zu legen, doch auch das war ihm nicht gelungen.
Bis heute nicht.
Eigentlich sollte er Cassie sogar dankbar sein dafür, dass sie ihn gezwungen hatte, sich seinen Problemen endlich zu stellen. Doch im Augenblick konnte er nichts anderes empfinden als grenzenlose Müdigkeit.
Langsam legte Cassie die Seite, die sie gerade zu Ende gelesen hatte, zurück auf den riesigen Papierstapel, der sich mittlerweile vor ihr häufte, und unterdrückte ein Gähnen. Sie war inzwischen auf Seite achthundertsechzig angelangt, hatte einen Großteil der letzten dreihundert Seiten allerdings nur noch überflogen. Die Schatten im Zimmer wurden bereits länger, und wenn sie den Rest des Manuskriptes noch vor Einbruch der Nacht gelesen haben wollte, musste sie sich beeilen.
Zunächst war sie gelinde gesagt überrascht gewesen. Nach dem ersten Schock, den der Anblick dieses Mammutwerkes ihr verursacht hatte, war sie davon ausgegangen, dass sich die Lektüre von Dales Manuskript als ein ziemlich langweiliges Unterfangen entpuppen würde. Doch dem war nicht so. Die ersten vierhundert Seiten waren ebenso brillant und eindrucksvoll gewesen, wie es die beiden Kapitel, die ihr von Dale freiwillig überlassen worden waren, hatten vermuten lassen. Danach jedoch war es mit der Story kontinuierlich bergab gegangen.
Cassie runzelte die Stirn. Was als packende Liebesgeschichte begonnen hatte, endete in einer ermüdenden Aneinanderreihung von nichtssagenden Einzelheiten, die für den Weitergang der Handlung absolut nicht von Belang waren. Es schien fast, als hätte Dale, als sich die eigentliche Geschichte dem Ende zuneigte, einfach immer weiter und weiter geschrieben. Aber warum? Es hatte doch gar nicht mehr viel gefehlt, um die Story zu einem Abschluss zu bringen.
Nichtsahnend öffnete Cassie eine der Schreibtischschubladen, um nach einem Rotstift zu suchen, denn ihr eigener hatte bei der Masse der Anmerkungen und Hinweise mittlerweile den Geist aufgegeben. Ganz oben im Fach stieß sie auf das Foto einer hübschen, goldblonden Frau, deren strahlendes Lächeln sie sofort sympathisch wirken ließ. Cassie brauchte nicht lange darüber nachzudenken, wen diese Fotografie wohl zeigte. Das war sie also. Annika, Dales verstorbene Frau.
Gedankenverloren strich sie mit dem Finger über das Glas, welches das Bild bedeckte. Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihr aus. Auch wenn sie Annika Prescott niemals hatte kennenlernen dürfen, so war sie doch beinahe sicher, dass sie einander gemocht hätten. Sie wirkte so fröhlich, so voller Leben und Energie, dass es schwerfiel, sich vorzustellen, dass sie tatsächlich tot sein sollte.
Und Cassie bemerkte noch etwas. Sobald sie die Fotografie erblickt hatte, fühlte sie sich an Anna, die Hauptfigur aus Dales Roman, erinnert. War seine verstorbene Frau das Vorbild für diesen Charakter gewesen? War er vielleicht deshalb nicht in der Lage, die Geschichte zu einem Ende zu bringen? Weil er seine geliebte Frau nicht noch einmal verlieren wollte?
Hastig schloss sie die Schublade. Sie fühlte sich
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