Insel der Freibeuter
Soldaten das Lagerhaus der Casa neben dem Rathaus bewachen.
Aber nimm dich sehr in acht!«
»Keine Sorge…« beruhigte ihn Justo Figueroa. »So
wie ich ausschaue, wird mich keiner für einen Piraten halten, auch wenn ich mit einem Totenkopf tä-
towiert bin. Ich werde auf der Straße schlafen und ein Maisbrot essen.«
»Um so besser! Wir treffen uns morgen, hier und
zur gleichen Stunde.«
Er verschwand in der engen Stampflehmgasse, die
nach Tacarigua führte, und eine gute Meile nach den letzten Häusern erblickte er einen dichten Wald,
über dessen Wipfeln die Kuppel eines offenbar luxu-riösen Herrenhauses ragte.
Alles war friedlich und ruhig. Keine Menschensee-
le weit und breit, nicht einmal das ferne Bellen eines traurigen Straßenköters störte die Abendstille Margaritas. Mit fünfhundert Mann, schoß es Sebastian einen Augenblick lang durch den Kopf, konnte man
die Paläste und Häuser dieser halbverlassenen Stadt plündern bis zur letzten Perle und zum letzten Maravedi. Schnell verwarf er diese Möglichkeit jedoch wieder, denn in der Stunde der Wahrheit konnte eine böse Überraschung auf ihn warten.
Niemand konnte mit Bestimmtheit wissen, wie vie-
le bewaffnete Männer plötzlich durch die riesigen Portale ins Freie stürmen, wie viele Soldaten beim leisesten Anzeichen von Gefahr aus Santa Ana, Juan Griego, Tacarigua oder Porlamar zur Hilfe eilen
würden.
Wer immer La Asuncion am unzugänglichsten
Punkt der Insel gegründet hatte, mußte sich darüber im klaren gewesen sein, daß Feinde stets vom Meer kommen würden. Und wer die Stadt überfallen wollte, mußte wissen, daß er unweigerlich in eine Falle lief, denn an der Biegung jedes Weges, der zur Kü-
ste zurückführte, konnte der Feind im Gebüsch lauern.
Seit Sebastian Heredia mit seinem Vater auf Per-
lensuche gegangen war, wußte er nur zu gut, daß an jedem strategischen Punkt der Küste stets ein riesiger Haufen Holz aufgeschichtet war, den die Wa-
chen beim geringsten Anzeichen von Gefahr anzün-
deten. Piraten und Korsaren waren immer die
schlimmsten Feinde der Insel gewesen.
Die Casa de Contratación von Sevilla natürlich ausgenommen.
Vielleicht weil sich die Casa sicher glaubte und sie wußte, daß ihr Name allein ausreichte, um einem
Einheimischen die verrückte Idee auszutreiben, ihre Schatzkammern anzugreifen, gab es in der Hauptstadt keine große Garnison. Die Casa zog es vor, die Festungen an der Küste so weit wie möglich zu verstärken.
Dabei waren sich sowohl die Casa als auch die
spanischen Autoritäten in Westindien darüber im
klaren, daß ihre Möglichkeiten, sich gegen die Überfälle von Fremden zu wehren, äußerst begrenzt wa-
ren. Die Neue Welt war viel zu riesig und zu vielfältig, als daß eine so kleine Nation sie gleichzeitig hätte erforschen, erobern und bewahren können.
»Wer viel rafft, verliert auch viel«, hieß es im
Volksmund, doch die spanischen Autoritäten der
damaligen Zeit schienen davon noch nichts gehört
zu haben. Immer weiter drangen sie vor, um neue
Länder zu unterwerfen und neue Reichtümer zu er-
schließen, ohne einen Gedanken daran zu ver-
schwenden, daß die Antillen, der neuralgische
Punkt, von dem alle Siege abhingen, inzwischen zur Achillesferse des spanischen Weltreichs geworden
waren.
Zu Lande- und zu Wasser suchten sich Piraten,
Korsaren, Bukaniere und Freibeuter zwischen Kuba
und Portobelo, zwischen Campeche und Cumanä in
aller Ruhe ihre Beute aus, ohne daß sich ihnen je eine spanische Flotte, die diesen Namen verdient
hätte, in den Weg gestellt hätte.
Die Flotte, die große Flotte, die allmächtige Flotte, verließ einmal im Jahr Sevilla. Ihr Auftrag lautete nicht, in der Karibik feindliche Schiffe zu bekämpfen, sondern lediglich, die unermeßlichen Reichtü-
mer, die in diesem Jahr in den Kolonien angehäuft worden waren, sicher nach Spanien zu bringen und
sie nicht in räuberische Hände fallen zu lassen. Die Sicherheit der Bewohner der Neuen Welt scherte sie keinen Deut. Es zählte nur die Sicherheit der Schät-ze, für die sich die Bewohner dieser Neuen Welt
abgerackert hatten.
In zwei Jahrhunderten hatte Spanien in der strategisch so wichtigen Karibik niemals eine auch nur
annähernd so mächtige Flotte wie jene stationiert, die jedes fahr die Schätze nach Sevilla begleitete.
Das hatte sicher damit zu tun, daß die Funktionäre der Casa für ein versenktes Piratenschiff weder eine Provision erhielten noch drei Viertel des
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