Insel der Freibeuter
schwarze Totenkopfflagge gehißt hatten.
Doch wie jeder gute »Seewolf« respektierte Jacare Jack die Gesetze der gefürchteten Bruderschaft der Küste peinlich genau, und so befahl er seinem Steuermann sofort, den Kurs zu ändern, als an einem
nebligen Morgen der Ausguck im Mastkorb einen
Schiffbrüchigen meldete.
Eigentlich waren es zwei Schiffbrüchige, die da an Bord kamen, und der Pirat war im ersten Augenblick ziemlich überrascht, daß der kaum den Kinderschu-hen entwachsene Knabe am Steuerrad der elenden
Schaluppe trotz seiner verzweifelten Situation mutig und gefaßt schien, während der baumstarke Mann,
der auf dem Vorderdeck geschlafen hatte, kaum ei-
nen zusammenhängenden Satz herausbrachte.
»Wer seid ihr, woher kommt ihr, wohin wollt ihr?«
lautete seine erste Frage.
»Ich heiße Sebastián Heredia, und das ist mein Vater«, erwiderte der aufgeweckte Junge wie aus der Pistole geschossen. »Wir kommen von Margarita
und wollen nach Puerto Rico.«
»Puerto Rico?« ließ der Pirat in schallendem Ge-
lächter vernehmen. »Na du gefällst mir! Bei deinem Kurs landest du geradewegs in Guinea, in Afrika.«
»Wir wurden von einem Unwetter überrascht«, ver-
teidigte sich der Junge. »Noch nie habe ich so viele Blitze gesehen.«
»Und einer ist deinem Vater wohl ins Hirn gefah-
ren.« Der Pirat tippte sich leicht an die Stirn. »Ist er vielleicht ein bißchen…?«
»Das ist eine lange Geschichte«, lautete die bittere Antwort.
Amüsiert musterte Jacare Jack den furchtlosen Jungen und wandte sich dann seinem Stellvertreter Lucas Castano zu, einem bärbeißigen Panamesen, der, wie es so seine Art war, bis dahin noch kein Ster-benswörtchen gesagt hatte, und fuhr schließlich gelassen fort.
»Ich hör mir gern Geschichten an, hab den ganzen
Tag nichts zu tun und möchte wissen, ob ich euch an Bord behalten oder ins Meer werfen soll.« Er grinste von einem Ohr zum anderen. »Also schieß los.«
An diesem Morgen erzählte Sebastián Heredia Ma-
tamoros Kapitän Jacare Jack den Teil der Geschich-te, den er erzählen wollte, und was er eigentlich nicht erzählen wollte, zog ihm der Pirat Stück für Stück aus der Nase, bis eine Glocke vom Achterdeck die Besatzung zum Mittagessen rief und der Pirat
seine riesige Pfeife, die man aus dem Hüftknochen eines englischen Admirals geschnitzt hatte, am Mast ausklopfte.
»Eine scheußliche und traurige Geschichte«, nickte er überzeugt. »Wirklich eine riesige Schweinerei.
Man kann halt wirklich niemandem trauen, nicht
einmal der eigenen Mutter. Ihr könnt bleiben«, fügte er hinzu. »Du wirst dem Koch zur Hand gehen, und
wenn es deinem Vater wieder besser geht, kann er
auf Deck aushelfen.«
So wurde der gerade zwölf Jahre alte Sebastian Heredia zum Küchengehilfen und Schiffsjungen eines
Piratenschiffes. Außerdem fiel ihm die täglich müh-seliger werdende Aufgabe zu, sich um einen armen
Teufel zu kümmern, der mit seiner elenden Lage
nicht fertig wurde und allmählich verdorrte wie ein Stockfisch, den man zum Trocknen aufgehängt hatte.
Tatsächlich verbrachte Miguel Heredia Ximénez
die Stunden und Tage damit, völlig abwesend und
auf seine Aufgabe konzentriert auf dem Schiffsdeck zu hocken und, an die Bugwand gelehnt, Messer,
Säbel, Äxte und Dolche zu schleifen. Von seinen
Händen und Armen abgesehen schien er Tausende
von Meilen entfernt, im Geiste war er in Margarita geblieben, unfähig zu begreifen, was ihm eigentlich zugestoßen war.
Hätte der Tod seine ganze Familie hinweggerafft,
hätte sich Miguel Heredia vielleicht mit seinem
Schicksal abfinden können, denn mit einem noch so frühen Tod mußte ein Mann seiner Zeit immer rech-nen. Doch daß die Frau, der er sein ganzes Leben
gewidmet hatte, ihn so eiskalt verraten würde, das war ein brutaler und unerwarteter Schlag, den er
nicht verarbeiten, sondern nur verdrängen und vielleicht irgendwann vergessen konnte.
Auf die Planken des Decks hatte er den Namen
»Celeste« eingeschnitzt, und wenn er ihn betrachte-te, wurden ihm die Augen feucht, und der Junge
fand kein Mittel, seinen Vater zu trösten.
Wäre Sebastián allein gewesen, er hätte über die
tägliche Arbeit seinen Schmerz vergessen können,
doch immer wenn er seinen Vater ansah, der stun-
denlang Schwerter schliff, bis sie so scharf waren wie Rasiermesser, mußte er wieder an die glücklichen Zeiten seiner Familie denken.
In der Zwischenzeit »vagabundierte« die Jacare,
mit spärlicher Takelage
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