Insel der Freibeuter
Nachtruhe zurück, denn bei Sonnenaufgang hatten sich alle Einwohner des
Dorfes vor seinem Zelt zu versammeln, Kinder, Alte und Kranke eingeschlossen. Nur Schwerkranke waren von diesem Befehl ausgenommen.
Alle fanden sich zur festgelegten Stunde ein.
Alle außer Don Hernando, der in aller Seelenruhe
weiterschlief – oder zumindest so tat –, während die Geladenen am Strand oder im Schatten der Palmen
warteten und Hauptmann Sancho Mendana auf- und
abmarschierte und sich in den Schnurrbart biß. Denn eigentlich hatte er große Lust, auf die höchste Zinne seiner Festung zu klettern, die Kanonen um 180
Grad drehen zu lassen und das provozierende Sym-
bol einer so schreienden menschlichen Ungerechtigkeit in Schutt und Asche zu legen.
»Und dafür habe ich mein Leben im Kampf gegen
die Piraten riskiert«, grollte er immer wieder vor sich hin. »Verfluchter Hurensohn!«
Nachdem Don Hernando dann schließlich doch
aufgestanden war, gefrühstückt und mit gesammelter Inbrunst seine Morgengebete verrichtet hatte, nahm er im großen Thronsessel Platz und ließ sich vor
seinem Tisch schweigend jede einzelne Familie von Juan Griego vorführen.
Er musterte sie alle mit strengem Blick und blätterte immer wieder im Bericht, den ihm ein Gehilfe
reichte. Wenn sich die Dinge nicht binnen eines
Monats bessern würden, schärfte er allen, die nicht auf der Insel geboren waren, mit ernster Stimme ein, sähe er sich gezwungen, ihre Aufenthaltsgenehmi-gung für die Kolonien zu widerrufen und sie mit
dem nächsten Schiff zurück nach Zamora, Sevilla
oder Badajoz zu schicken.
»Der Krone liegt nicht daran, daß sich die Neue
Welt in eine Zuflucht für Vagabunden und Tauge-
nichtse verwandelt«, schärfte er ihnen mit leicht ironischem Unterton ein. »Daher bin ich entschlossen, mit aller mir übertragenen Autorität die Kolonien ein für allemal von allen unnützen Schma-rotzern zu befreien.«
Alle Bewohner Margaritas, die auf der Insel zur
Welt gekommen waren, erinnerte er daran, daß die
Strafe für säumige Steuerzahler sechs Jahre Kerker lautete, und »riet« ihnen daher, so schnell wie möglich mit ihren Booten in See zu stechen.
»Die Geduld der Krone hat ihre Grenzen«, schloß
er unmißverständlich. »Und diese Grenzen sind
nunmehr erreicht.«
Don Hernandos hochmütige Haltung wandelte sich
jedoch urplötzlich, als man ihm die bescheidene
Familie Heredia vorstellte. Denn kaum hatte der
scheinbar gefühllose Generalbevollmächtigte der
Casa de Contratación von Sevilla auf Margarita sei-ne Augen auf Emiliana Matamoros gerichtet, ver-
liebte er sich unsterblich in sie.
Aus heiterem Himmel schien ihn der Blitz getrof-
fen zu haben: Seine Stimme versagte, die Hände
zitterten, als ihm sein Schreiber das Schriftstück reichte, und kaum wagte er den Blick zu heben, aus Furcht, seine Augen könnten das Feuer verraten, das in seinem Herzen zu lodern begann.
Doch auch ohne diesen Blick wußte das Objekt
seiner Begierde, was geschehen war, denn seit Emiliana bis drei zählen konnte, hatte es Männern bei ihrem Anblick die Sprache verschlagen.
Der einzige, der dagegen gefeit war – er sprach ohnehin nicht viel – war ihr Ehemann, und vielleicht hatte sie ihn gerade deshalb geheiratet.
Doch an diesem heißen Septembermorgen begriff
Emiliana Matamoros, daß sie, barfuß und lediglich in ein grobes Kattunkleid gehüllt, zur absoluten
Herrscherin über die Träume und den Willen eines
Mannes geworden war, den man zu diesem Zeit-
punkt als unbeschränkten Machthaber der Insel be-
zeichnen konnte.
Über zwanzig Jahre grübelte Sebastián Heredia
Matamoros darüber nach, wie geschehen konnte,
was er im Inneren seines Herzens niemals akzeptieren sollte: Seine Mutter hatte sich mit Leib und Seele an einen Menschen verkauft, der ihre eigenen
Leute ausplünderte. Als Don Hernando Pedrárias
Gotarredona fünf Tage später in seinen Palast nach La Asunción zurückkehrte, nahm Emiliana Matamoros neben ihm Platz, und ihnen gegenüber eine re-
bellische und empörte Celeste.
Sebastián aber rannte fort, um sich im Dickicht von Cabo Negro zu verstecken, und schwor sich immer
wieder, lieber mit einem Stein um den Hals ins Meer zu springen, als auch nur einen Fuß in jene Kutsche zu setzen. Inzwischen schmachtete sein Vater als
angeblicher Anstifter des »Streiks« der Perlenfischer auf der Insel in einem Verlies der Festung La Galera.
Eine Woche später, als Sebastián auf der Schwelle seines Hauses
Weitere Kostenlose Bücher