Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
Vom Netzwerk:
ist fertig.«
    Ich blickte in Richtung der Stimme und entdeckte eine Gegensprechanlage an der Wand. Ich hastete darauf zu und drückte einen der Knöpfe. »Äh … danke«, sagte ich eine Spur zu laut. »Ich komme sofort hinunter.«
    Schon auf der Treppe schlug mir ein köstlicher Duft aus der Küche entgegen. Auf dem Herd köchelte ein dicker, sämiger Eintopf, und Iris zog gerade ein frisch gebackenes Brot auf dem Ofen. Der Tisch war nur für eine Person gedeckt.
    »Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten?«, fragte ich, als ich Platz nahm. »Nach so einem arbeitsreichen Morgen müssen Sie doch Hunger haben.«
    »Ich habe schon gegessen«, wehrte Iris ab, dabei schöpfte sie den Eintopf in eine tönerne Schale, die sie zusammen mit einem Korb mit ein paar Scheiben frischem, heißem Brot und einem Butterschälchen vor mich hinstellte. »Die Suppe habe ich extra für Sie zubereitet. Aber ich setze mich gern mit einer Tasse Tee zu Ihnen. Ich dachte mir, Sie würden jetzt vielleicht gerne etwas über Ihre Familie erfahren. Über Ihre Vorfahren. Ich bin der einzige noch lebende Mensch, der Ihnen von ihnen erzählen kann, wissen Sie? Hören Sie es nicht von mir, dann hören Sie es von niemandem. Und die Geschichte Ihrer Familie ist für immer verloren.«
    Während der Schneeregen weiter gegen das Fenster prasselte und ich meinen Eintopf löffelte, begann Iris leise zu erzählen.

Zweiter Teil

13
    »Als Ihre Urgroßeltern Hannah und Simeon Hill kurz nach der letzten Jahrhundertwende auf diese Insel kamen, waren sie gerade frisch verheiratet. Hannah war fast noch ein Mädchen, gerade siebzehn Jahre alt, und Simeon war ein gutes Stück älter – dreißig, fünfunddreißig vielleicht. Sie liegen beide auf dem Friedhof auf der anderen Seite der Insel begraben. Haben Sie den schon gesehen?«
    »Ja, ich bin daran vorbeigefahren.«
    Iris fuhr fort: »Gut. Sie finden die genauen Geburts- und Todesdaten auf ihren Grabsteinen, aber er war auf jeden Fall viel älter als sie. Bei ihrer Hochzeit war Simeon bereits ein wohlhabender Mann. Er hatte ein Jahrzehnt zuvor mit seinen Brüdern einen Holzhandel gegründet, und inzwischen gehörte die Firma ihm allein. Ein großer Teil dessen, was Sie geerbt haben, hat ursprünglich Simeon Hill verdient und im Lauf der Zeit klug investiert.«
    Ich sah mich in der wunderschönen Küche um und dankte meinem Schöpfer stumm für den Fleiß und die Geschäftstüchtigkeit meines Urgroßvaters.
    Iris nippte an ihrem Tee, bevor sie weitersprach. Ein Schleier schien sich über ihre blicklos ins Leere starrenden Augen gelegt zu haben. »Simeon brachte seine junge Frau hierher auf die Insel, die über hundert Jahre lang ein wichtiger Posten für den Pelzhandel war. Aber um die Jahrhundertwende herum hatten die meisten Siedler die Insel wieder verlassen, und Grand Manitou wurde rasch zum Spielplatz der Reichen und Mächtigen aus Chicago, Minneapolis und anderen Städten. Simeon hatte hier des Öfteren geschäftlich zu tun gehabt und sich dabei in die Insel verliebt, und so baute er für seine Frau hier ein großes Herrenhaus.«
    »Wie sah es denn damals hier aus?«, warf ich ein.
    »Große Anwesen, reiche Herrschaften, Pferde und Kutschen. In den letzten hundert Jahren hat sich gar nicht so viel geändert. Die Zeit vergeht natürlich auch hier, aber irgendwie langsamer als anderswo.« Dann räusperte sie sich, trank erneut einen großen Schluck Tee und fuhr fort:
    »Trotz des Altersunterschiedes führten Simeon und Hannah eine glückliche Ehe. Alle wussten, wie sehr sie einander zugetan waren. Er sah überwältigend gut aus – groß, dunkelhaarig, mit Augen so schwarz wie der See an einem Novembertag – und Hannah war zwar keine große Schönheit, strahlte aber etwas aus, was die Leute stets zu ihr hinzog. Es waren ihre Jugend und ihre Lebensfreude, denke ich. Und sie hatte das schönste Haar auf der ganzen Insel: dicht, gewellt und kastanienbraun wie das Ihrer Mutter. Sie trug es oft offen über den Rücken fallend, statt es aufzustecken, wie es die meisten Frauen zu jener Zeit taten.«
    Auf einmal wandte sich Iris zu mir, und ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Können Sie sie sehen, Kind? Können Sie Hannah und Simeon sehen?«
    Ob ich sie sehen konnte? Was sollte das denn heißen? »Ich kann sie mir vorstellen, ja«, wich ich aus, da ich nicht wusste, worauf sie hinauswollte.
    »Sehr gut«, nickte Iris, dann fuhr sie mit ihrer Erzählung fort: »So glücklich sie auch waren,

Weitere Kostenlose Bücher