Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
Vom Netzwerk:
ihnen fehlte das Eine, das sie zu einer richtigen Familie gemacht hätte. Ein Kind. Ein Jahr verging, ohne dass sich Nachwuchs einstellte, dann noch eines und noch eines, und bald begannen die Leute in der Stadt zu tuscheln, und die Frauen überschütteten die arme Hannah mit allen möglichen Ratschlägen. ›Iss mehr salzige Speisen‹, flüsterte ihr eine Nachbarin eines Sonntags nach dem Kirchgang zu, ›Leg dich nur bei Vollmond zu deinem Mann‹, riet eine andere.
    Keine dieser unsinnigen Methoden führten natürlich zu dem gewünschten Erfolg, und Hannahs Verzweiflung wuchs immer mehr. Sie wusste, dass Simeon darauf brannte, eine neue Generation von Hills zu zeugen; Nachkommen, die eines Tages Haus und Geschäft übernehmen würden. Aber als immer mehr Zeit verging, ohne dass sie schwanger wurde, begann Hannah zu fürchten, Simeon könne andere Wege beschreiten, um einen Erben in die Welt zu setzen – kurz, sie hatte Angst, er könne sich eine neue Frau nehmen.
    Hannah hatte nämlich bereits mit eigenen Augen gesehen, wie derlei Dinge hier auf der Insel geregelt wurden: Drei Jahre zuvor hatte sie voller Entsetzen zugeschaut wie eine gute Bekannte, Sandra Harrington, mit Koffern beladen, das Gesicht hinter einem Schleier verborgen, an Bord der Fähre zum Festland gegangen war. Sie kehrte nie wieder zurück, und ein paar Monate später brachte ihr Mann eine neue junge Frau in sein Haus und gründete mit ihr die ersehnte Familie.«
    »Das ist ja furchtbar!« Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie tief gedemütigt sich die arme, unfruchtbare Sandra gefühlt haben musste. Fortgejagt zu werden wie ein alter Hund, der für seinen Besitzer keinen Wert mehr hat …
    »Glauben Sie mir, vielen Frauen, die ihren reichen Männern keine Kinder schenken konnten, ist noch viel Schlimmeres zugestoßen!« Iris schnalzte mit der Zunge. »Sandra hatte Glück, sie bekam sogar noch eine großzügige Abfindung, statt wie manch andere eines mysteriösen Todes zu sterben.«
    Ich erschauerte. »Aber warum haben sie und ihr Mann nicht einfach ein Kind adoptiert?«
    »Ach, so etwas tat man damals nicht. Die Reichen wollten leibliche Erben und verziehen es ihren Frauen nicht, wenn sie ihnen diese nicht gebären konnten. Hannah hatte jedenfalls nicht vor, zuzulassen, dass sie dasselbe Schicksal erlitt. Dazu liebte sie ihren Mann zu sehr, also beschloss sie, nichts unversucht zu lassen.«
    Iris dämpfte ihre Stimme verschwörerisch, als stünde sie im Begriff, mir etwas zu erzählen, was sie eigentlich nicht weitergeben durfte. »Eines Nachmittags, als Simeon auf dem Festland war, begab sich Hannah auf die andere Seite der Insel und klopfte an die Tür der dort lebenden Medizinfrau, Martine Bertrand, einer Frankokanadierin, die fünfzig Jahre zuvor mit ihrem Mann, einem Pelzhändler, nach Grand Manitou gekommen war. Den lokalen Gerüchten zufolge war Martine eine Hexe.« Iris’ Augen funkelten. »Die Hexe des Sommertals, so nannten die Kinder sie. Tief in dem Zedernwald auf der anderen Seite der Insel gibt es nämlich eine Lichtung, durch die ein kleines Flüsschen verläuft. Diese Lichtung heißt seit jeher das Sommertal. Der Pelzhändler, Jacques Bertrand, hatte dort vor Jahren ein kleines Häuschen für sich und seine Frau gebaut. Martine war inzwischen eine alte Frau, die schon jahrzehntelang allein im Sommertal gelebt hatte.
    Über sie waren unzählige Geschichten im Umlauf; Legenden, die im Lauf der Zeit immer mehr ausgeschmückt wurden. Die Kinder schlichen durch den Wald, um einen Blick auf die vermeintliche Hexe zu erhaschen, obwohl sie Angst hatten, Martine würde sie einfach vom Angesicht der Erde wegzaubern. Sie galt als rachsüchtig und böse, und es hieß, sie würde Flüche über die Angehörigen der höheren Schichten aussprechen, die ihre wilde, unberührte Insel in eine Enklave für die Reichen verwandelt hatten.«
    »Eine Hexe? Sie wollen mir doch nicht im Ernst weismachen, dass Sie glauben, diese Martine wäre tatsächlich eine Hexe gewesen!«
    Iris lächelte. »Natürlich nicht, Kind. All diese Gerüchte waren nichts als Unsinn. Martine war eine Heilerin, eine Medizinfrau, jemand, der es verstand, aus dem, was Mutter Natur uns bietet, Tränke und Umschläge herzustellen. Sie verfügte über ein umfangreiches, altüberliefertes Wissen, und obwohl es niemand zugab, und schon gar nicht offen darüber sprach, sind stets viele der wohlhabenen Damen mit Umhängen und Kapuzen maskiert über die Insel gehuscht und haben an

Weitere Kostenlose Bücher