Insel der Schatten
Beispiel dafür –, aber ich hätte nie gedacht, dass jemand mir wirklich drohen würde. Warum war Will bloß gerade heute abend geschäftlich unterwegs?
Im Moment blieb mir wohl nichts anderes übrig, als meinen Weg fortzusetzen. Ich konnte mein Haus schon sehen; Licht schimmerte hinter den Fenstern des unteren Stockwerks. Plötzlich wünschte ich mir nichts mehr, als mich sicher innerhalb meiner vier Wände zu befinden. Nach Atem ringend rannte ich auf die Haustür zu, schlug sie hinter mir zu, lehnte mich dagegen und schloss sie sorgfältig ab. Dann überprüfte ich sämtliche anderen Türen und Fenster, ehe ich die Hunde rief, damit sie mich in mein Schlafzimmer begleiteten, und verriegelte vorsichtshalber auch noch diese Tür. Doch trotz all dieser Sicherheitsvorkehrungen konnte ich den höhnischen Gesichtsausdruck des Mannes und seine bedrohlichen Worte nicht aus meinem Gedächtnis tilgen.
Als ich früh am nächsten Morgen die Hunde ausführte, beschloss ich, in die Stadt hinunterzugehen. Ich wollte mit Jonah reden – vielleicht kannte er den Mann, dem ich letzte Nacht begegnet war oder hatte die Kutsche die Stadt verlassen sehen. Aber allein wollte ich mich nicht auf den Weg machen. Meine Hündinnen jedoch schienen meine Gedanken gelesen zu haben, denn sie drängten sich an meine beiden Seiten, als wir den Hügel hinunterschlenderten.
Die Hunde rollten sich neben der Tür des Cafés zusammen, als ich eintrat. Außer Jonah war niemand da. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte quasi in einem Atemzug.
Jonah hob die Hände, wie um meine Wortflut einzudämmen. »Langsam, Hallie! Was für ein Mann? Wer war es?«
»Das weiß ich nicht.« Ich tigerte vor der Theke auf und ab. »Er kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich konnte ihn nicht einordnen. Er fuhr einen von einem schwarzen Pferd gezogenen Zweisitzer.«
Jonah dachte einen Moment lang nach, dabei kniff er die Augen zusammen, wie um sich im Geist ein Bild von dem Geschehenen zu machen. »Tut mir leid. Ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte.«
»Ich frage mich, ob ich zur Polizei gehen soll.« Ich rieb mir die Stirn.
»Und was willst du dann da sagen? Dass jemand, den du nicht identifizieren kannst, versucht hat, dich über den Haufen zu fahren?«
Er wirkte ruhig, besonnen und vernünftig, während ich wie ein gefangener Wolf auf und ab lief. »Was soll ich denn sonst machen? Dieser Kerl hat mich bedroht!«
Jonah schüttelte den Kopf. »Ich meine ja nur, dass es eine rationale Erklärung für den Vorfall geben muss«, beharrte er. »Vermutlich kommst du dir so vor, als würde die gesamte Insel über dich reden, und das kann ich leider auch nicht bestreiten. Du bist eben das ergiebigste Objekt für Klatsch und Tratsch, das wir seit Jahrzehnten hier hatten. Aber das Gerede hört sicher bald auf, glaub mir! Und niemand hier auf der Insel käme auf den Gedanken, dich zu bedrohen, Hallie! Kein Mensch! Und ich kenne wirklich jeden, der hier lebt.«
»Du klingst genau wie mein Vater«, knurrte ich, mir erneut die Stirn reibend. »Der vertrat auch immer den Standpunkt, dass es für alles eine logische Erklärung gibt.«
Jonah griff lächelnd über die Theke und nahm meine Hand. »Für gewöhnlich ist das ja auch der Fall. Die Straße war schließlich stockdunkel. Vielleicht hat dich der Kerl erst gesehen, als es schon fast zu spät war.«
Da war etwas dran, das musste ich zugeben. Vielleicht hatte Jonah recht, und es lag einfach nur ein Missverständnis vor. Plötzlich schämte ich mich für meinen stürmischen Auftritt. Zum Glück hatte sich außer ihm niemand im Lokal aufgehalten und alles mitbekommen.
»Weißt du was? Du hast recht. Ich glaube wirklich, dass alle Leute hinter meinem Rücken über mich tuscheln, und ich scheine allmählich unter Verfolgungswahn zu leiden. Vergessen wir das Ganze einfach, okay?«, bat ich.
»Kein Problem.« Jonah wischte müßig über die Theke. »Du hast letzte Nacht einen Heidenschreck bekommen, das ist alles.«
»Dann will ich dich nicht länger von der Arbeit abhalten. Bis bald, Jonah.« Ich verließ das kleine Café.
Auf dem Rückweg hügelaufwärts wirkte dieselbe Straße, die mir gestern noch so bedrohlich und unheimlich erschienen war, im Tageslicht auf einmal völlig friedlich. Ich atmete tief durch. Weder dieser Mann noch irgendjemand sonst hatte einen Grund, mich zu bedrohen. Ich hatte schließlich nichts verbrochen.
Der Montag begann regnerisch und stürmisch. Ich blieb noch eine Weile im Bett
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