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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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lernte. Als er vier Jahre alt war …«
    »Vier?!«, unterbrach ich sie. »Wollen Sie sagen, dass er mit vier immer noch nicht sprach?«
    »Ja, Kind. Aber ungefähr in diesem Alter begann er zu meinem großen Kummer immer öfter allein zur Küchentür hinauszuspazieren. Ich geriet dann immer außer mir vor Sorge und suchte ihn überall: im Haus, im Garten, zwischen den Beeten. Doch schon bald hatte ich heraus, wo ich ihn finden konnte; entweder in der Scheune oder auf der hinteren Rasenfläche.«
    Das verschwommene Bild eines kleinen Jungen formte sich in der Luft über dem Tisch – ein blondes, blauäugiges Kind, das mit ein paar Hunden im Gras saß. Ein Hirsch stand neugierig ganz in der Nähe, und ein Falke zog über ihm seine Kreise.
    »Es waren Tiere bei ihm?«, fragte ich Iris, da ich meinen Augen nicht traute.
    »Charles hatte eine geradezu übernatürliche Beziehung zu Tieren. Er schien ihre Gedanken zu lesen und sie verstehen zu können. Er sprach ihre Sprache, obwohl er außer seinem Lachen keinen Ton von sich geben konnte oder wollte. Ich fand ihn oft bei einer Kuh im Stall liegend oder von einem Dutzend Rotkehlchen umringt im Gras sitzend, oder er streichelte ein Stinktier, das sich auf das Grundstück verlaufen hatte. Bei all diesen Begebenheiten störte ich ihn nie«, fuhr Iris fort. »Ich kann es nicht erklären, aber ich spürte einfach, dass ich besser daran tat, ihn dann in Ruhe zu lassen. Also beobachtete ich ihn nur fasziniert.«
    »Das klingt ja übernatürlich, Iris«, murmelte ich, während ich zu sehen meinte, wie ein riesiger Falke auf Charles’ ausgestrecktem dünnen Arm landete.
    »Das war es auch.« Iris’ Augen leuchteten. »Als er fünf Jahre alt war, entdeckte ich ihn wieder einmal auf dem hinteren Rasen – und neben ihm räkelte sich ein Puma.«
    Ich schluckte. »Ich wusste gar nicht, dass es auf der Insel so große Raubkatzen gibt.«
    »Früher stieß man häufiger auf sie«, nickte die alte Haushälterin. »Aber heute sind sie längst von hier verschwunden. Wir alle wussten damals allerdings, wozu Pumas imstande waren, besonders wenn sie Hunger hatten. Ich bekam es natürlich sofort mit der Angst zu tun und rief nach Hannah, die mir aber keine große Hilfe war, weil sie beim Anblick ihres neben dem großen Raubtier sitzenden Kindes einen hysterischen Anfall erlitt. Also rannte ich zu Simeon und bat ihn, mir zu folgen und sein Gewehr mitzunehmen. Simeon stürmte zur Tür hinaus, schritt langsam auf Charles und den Puma zu und zielte auf den mächtigen Kopf der Raubkatze.
    ›Keine Angst, mein Sohn‹, sagte er ruhig. ›Ich komme schon! Rühr dich nur nicht von der Stelle.‹
    Aber zum ersten Mal im Leben tat Charles nicht, was ihm gesagt wurde. Er stand auf, stellte sich zwischen seinen Vater und den Puma und breitete die Arme aus.
    ›Warum willst du Bella erschießen, Daddy?‹, rief er. ›Sie ist nur hier, um mich zu beschützen; sie und die anderen Tiere wechseln sich damit ab!‹
    Das waren seine allerersten Worte. Beim Klang der Stimme seines Sohnes ließ Simeon das Gewehr fallen und sank auf die Knie.
    ›Nicht weinen, Daddy‹, tröstete Charles ihn, rannte zu ihm hinüber und schlang die Arme um seinen Hals.
    Simeon hob den Jungen auf und drückte ihn an sich, und als er das tat, erhob sich der Puma und trottete auf ihn zu. Simeon wollte erneut nach dem Gewehr greifen – ich sah das nackte Entsetzen, das sich auf seinem Gesicht widerspiegelte –, aber Charles kam ihm zuvor.
    ›Es ist alles gut, Daddy‹, murmelte er. ›Ich habe Bella gesagt, dass du mir nicht weh tun willst.‹ Und bei diesen Worten strich das Raubtier um Simeons Beine, als wäre es eine ganz gewöhnliche Hauskatze, und nahm dann seinen Platz auf dem Rasen wieder ein.«
    »Unglaublich«, entfuhr es mir.
    Iris nickte. »Wir alle trauten unseren Augen kaum. Später beim Abendessen, nachdem wir über den Schock hinweggekommen waren, dass der stumme Charles mit einem Mal fröhlich plappernd am Tisch saß, fasste sich Simeon ein Herz und fragte seinen Sohn:
    ›Charles, warum hast du bislang kein einziges Wort gesprochen?‹
    Dieser sah ihn verwirrt an und erwiderte: ›Ich verstehe nicht, was du meinst, Daddy.‹
    Simeon wiederholte seine Frage und fügte hinzu: ›Bis zum heutigen Tag hast du nie ein vollständiges Wort ausgesprochen, Sohn! Wir hatten schon Angst, du würdest stumm bleiben.‹
    Daraufhin schüttelte Charles nur verständnislos den Kopf. ›Aber ich habe doch die ganze Zeit lang

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