Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
Vom Netzwerk:
wieder hoch und schob den Schlüssel ins Schloss. Die Tür ließ sich mühelos öffnen.
    Ich gelangte in einen langen Flur, der dem Korridor in der ersten Etage ähnelte. Er war düster und muffig; die Läden der Fenster zu beiden Seiten waren fest geschlossen. Ich drückte auf den Lichtschalter – nichts geschah. Also öffnete ich die Fensterläden. Helle Lichtstreifen fluteten den Flur, der mir gleich viel weniger unheimlich vorkam.
    Da hier die Dienstboten untergebracht gewesen waren, war dieses Stockwerk nicht so üppig eingerichtet wie der Rest des Hauses. Ein schlichter roter Teppich bedeckte den Boden, und die Wände waren in einem Cremeton gestrichen, der im Laufe der Zeit vergilbt und stark verblichen war.
    Ich drehte den Knauf der ersten Tür, hinter der sich ein kleiner Raum befand, der nur ein einzelnes Bett mit einer nackten Matratze, einen kleinen Nachttisch und einen verstaubten, leeren Kleiderschrank enthielt. Am Ende des Flurs lag ein winziges Badezimmer. Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie Iris und ihre Mutter vor vielen Jahren in diesen spartanischen Räumlichkeiten gehaust haben mochten.
    Als ich mich der letzten Tür näherte, beschleunigte sich mein Pulsschlag merklich. War Julie Sutton in diesem Raum von ihrem Schicksal, wie auch immer es ausgesehen hatte, heimgesucht worden? Mit angehaltenem Atem öffnete ich die Tür.
    Zwei identische Einzelbetten, auf denen immer noch gelbe und rote Steppdecken lagen, waren an die seitlichen Wände des Zimmers geschoben worden. Dazwischen stand ein Schaukelpferd, dessen Farbe schon stark abblätterte. In der Ecke neben dem Fenster sah ich einen Schaukelstuhl. Die Wände waren mit einer ausgeblichenen gelben Tapete tapeziert, auf die Enten, Hühner und Gänse gedruckt waren. Ich fühlte mich in diesem Zimmer auf Anhieb heimisch. Hatte ich als Kind hier gespielt?
    In einer anderen Ecke entdeckte ich einige Kartons, Koffer und Kisten. Sie waren ordentlich beschriftet: »Spielzeug«, »Kleider«, »Jacken« und so weiter. In einem Koffer fand ich zahlreiche ebenfalls beschriftete und nach Jahren geordnete Fotoalben und wollte mich gerade auf dem Boden niederlassen, um sie durchzublättern, als mein Blick auf einen Karton mit der Aufschrift »Noah« fiel. Auf dem nächsten stand »Hallie«. Augenblicklich vergaß ich, welche Absicht mich ursprünglich in den zweiten Stock hinaufgeführt hatte, kniete mich neben den Karton meines Vaters und klappte ihn auf. Er enthielt ein paar sorgfältig zusammengefaltete Kleidungsstücke, Krawatten, Bücher und andere persönliche Gegenstände sowie – und das interessierte mich natürlich am meisten – zwei weitere Fotoalben.
    Mir stockte der Atem, als ich das erste aufschlug. Ein scharfer Schmerz durchzuckte mich, als ich meine Mutter und meinen Vater zum ersten Mal zusammen sah.
    Er war natürlich wesentlich jünger, als ich ihn in Erinnerung hatte, aber es war dieses leuchtende Glück in seinen Augen, was mich am meisten von allem berührte. Langsam blätterte ich die Seiten um, betrachtete Bilder, die die beiden beim Picknick, am Ufer des Sees und Arm in Arm am Rande des Grand Canyons zeigten. Meine junge Mutter sah der Frau, die mir jeden Tag aus dem Spiegel entgegenblickte, geradezu gespenstisch ähnlich. Und noch etwas wurde mir jetzt klar: In den ersten Jahren ihrer Beziehung waren meine Eltern glücklich miteinander gewesen. Diese Fotos bewiesen es.
    Ich schob den Karton meines Vaters beiseite, wappnete mich innerlich und öffnete dann denjenigen, der meinen Namen trug. Ein lilafarbenes Stinktier aus Plüsch, das einen leichten Fliederduft verströmte, geriet mir als Erstes in die Hände. Und prompt fiel mir wieder ein, dass ich es einst Lilac getauft hatte. Eine Flickenpuppe lag neben einem weißen Stoffhund – Mister Wuff, dem treuen Freund meiner frühen Kinderjahre. Ich faltete einen kleinen weißen Pullover und ein langes weißes Kleidchen auseinander, das ich wohl bei meiner Taufe getragen hatte. Dann stieß ich auf ein schlichtes Trägerkleid, das mich an den Herbst, gespitzte Bleistifte und einen Spaziergang mit der Butterbrotdose in der Hand zum Kindergarten denken ließ. Der Karton enthielt auch einige Bücher: Die kleine Meerjungfrau von Hans Christian Andersen, Hans Brinker und die silbernen Schlittschuhe sowie sämtliche Bände von Unsere kleine Farm . All diese Dinge hatten einst mir gehört.
    Auch hier fand ich Fotos; die ersten Bilder aus meiner Kindheit, die ich zu Gesicht bekam. Ich als

Weitere Kostenlose Bücher