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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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gesprochen! Habt ihr mich denn nicht gehört?‹
    Schweigen legte sich über die Tischrunde. Niemand wusste, was er sagen sollte. Der Junge war sein ganzes Leben lang stumm gewesen wie ein Fisch, das konnte jeder im Raum bezeugen.
    Endlich brach Simeon die Stille, um seinem Sohn die seiner Meinung nach einzig mögliche Antwort zu geben. ›Nein, Charles, wir haben dich nie gehört. Tut mir leid, mein Sohn. Ich schätze, wir haben wohl nicht aufmerksam genug zugehört.‹
    Da erhellte ein strahlendes Lächeln Charles’ kleines Gesicht, und er griff nach der Hand seines Vaters. ›Macht ja nichts, Daddy! Ich habe aufmerksam genug für uns alle zugehört.‹«
    Die Freundlichkeit und das Mitgefühl in der Stimme meines jungen Großvaters, die ich so klar und deutlich hören konnte, als stünde er direkt neben mir, überwältigten mich. Verstohlen wischte ich mir über die Augen. »Charles muss ein wundervolles Kind gewesen sein.«
    »Das war er«, bekräftigte Iris warm.
    »Hielten sich die Tiere denn auch noch in seiner Nähe auf, als er heranwuchs?«
    »O ja«, nickte mein Gegenüber. »Vor allem Wölfe und größere Raubtiere. Und keines von ihnen hat je unsere Hühner oder Kühe gerissen oder die Hofhunde angegriffen. Sie kamen nur aus einem einzigen Grund zu uns: um Charles zu beschützen.«
    »Wovor denn nur?«
    Ein Lächeln huschte über Iris’ zerfurchtes Gesicht. »Kind, haben Sie mir beim letzten Mal denn nicht richtig zugehört?«
    »Doch, natürlich!«
    »Was meinen Sie denn dann, vor wem all diese Tiere Charles beschützen mussten?«
    Bei diesen Worten schloss sich eine eisige Hand um mein Herz, und vor mir stieg das Bild der drei Geistermädchen auf.
    Charles hatte Schutz vor seinen toten Schwestern gesucht.

21
    Ich beschloss, Will Iris’ letzte Fortsetzung der Familiengeschichte nicht weiterzuerzählen. Sie hatte mich ungemein gefesselt, aber nachdem sich Iris auf den Heimweg gemacht hatte, hallten Wills Worte in meinem Kopf wider, und ich fragte mich, wie viel davon wohl der Wahrheit entsprach. Und ich konnte mir vorstellen, wie das alles erst in den Ohren eines Außenstehenden klingen musste. Ein stummer Junge, der die Fähigkeit besaß, mit der Tierwelt zu kommunizieren? Aus solchem Stoff wurden Kinderbücher gemacht.
    Nein, ehe ich Will weitere gespenstische Einzelheiten enthüllte, musste ich Beweise finden, um meine Behauptungen zu untermauern. Also stieg ich, sowie die alte Haushälterin das Haus verlassen hatte, in den zweiten Stock empor. Ich war entschlossen, irgendwelche alten Familienfotos oder sonst etwas auszugraben, die ihre Erzählung bestätigten.
    Den zweiten Stock hatte ich bei meinen Erkundungsgängen bislang ausgespart. Dafür gab es mehrere Gründe, die zugegebenermaßen alle jeglicher logischer Grundlage entbehrten. In diese Etage gelangte man nur über die Hintertreppe; vermutlich, weil sie einst die Dienstboten beherbergt hatte, die in die Küche und die Waschküche gelangen mussten, ohne ihre Herrschaften zu stören. Schon allein das Treppenhaus erschien mir abweisend und unheimlich, daher konnte ich mir lebhaft vorstellen, wie das zweite Stockwerk selbst aussehen musste. Und dann befand sich am Treppenabsatz eine verschlossene Tür, in deren Schloss kein Schlüssel steckte.
    Ich hätte natürlich einfach Iris danach fragen können. Entweder verwahrte sie diesen Schlüssel, oder sie wusste, wo er zu finden war. Ich hörte sie nämlich manchmal dort oben herumhuschen, wenn sie saubermachte. Doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich dort oben nichts verloren hatte. Was auch immer sich zwischen meinem Vater und Julie Sutton abgespielt haben mochte, es war im zweiten Stock passiert. Der Gedanke, den Ort des Geschehens betreten zu müssen, verursachte mir eine latente Übelkeit.
    Aber an diesem Tag gewann meine Neugier die Oberhand. Zwar rechnete ich nicht gerade damit, auf ein Foto von Martine mitten in ihrer Séance zu stoßen, hoffte aber, zumindest einen Schnappschuss von Charles und einigen seiner Tiere zu finden. Und vielleicht eine alte Aufnahme der Mädchen.
    Also machte ich mich auf die Suche nach dem Schlüssel, und als ich fast eine Stunde später mit der Hand über das Fensterbrett des hoch in die Wand eingelassenen Küchenfensters tastete, stieß ich endlich auf einen kühlen, metallischen Gegenstand. Es war ein alter Schlüssel an einer Kette. Das musste der richtige sein. Ich schloss die Hand um das kalte Metall, schlich mit wild klopfendem Herzen die Stufen

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