Insel der Schatten
Baby und Kleinkind, glücklich lachend oder fröhlich spielend. Geburtstagspartys, Sommerfeste, Weihnachten. Doch während ich die Aufnahmen durchsah, wurde mir allmählich klar, dass irgendetwas mit ihnen nicht stimmte, denn nicht alle Bilder zeugten von Glück und sorgloser Unbeschwertheit. Je älter ich auf den Fotos war, desto stärker wurde der in meinen Augen sichtbare Ausdruck von Schuld, gut gehüteten Geheimnissen und unterschwelliger Angst.
Der Anblick dieser förmlich greifbaren Erinnerungen – Dinge, die meine trauernde Mutter als Andenken an Mann und Tochter, die sie für tot hatte halten müssen, fortgepackt hatte – löste in mir einen eigentümlichen Schmerz aus. Kein Wunder, dass sie den zweiten Stock verschlossen gehalten hat, dachte ich. Kummervolle Erinnerungen sperrte man nur allzu gerne aus seinem Leben aus.
Und genau das wollte ich in diesem Moment auch tun: Die staubige Vergangenheit hinter mir lassen und in den Teil des Hauses zurückkehren, in dem die Gegenwart herrschte. Ich griff nach einem Karton mit alten Familienfotos und beschloss, in den Wintergarten zu gehen und dort nach den Beweisen zu suchen, die ich brauchte.
In letzter Sekunde klemmte ich mir auch noch Mister Wuff unter den Arm. Dann schloss ich die Tür zum Flur hinter mir und stieg die Treppe hinunter. Und mit jeder Stufe wurde mir wieder leichter ums Herz.
22
Ich verbrachte den größten Teil des Nachmittags damit, die Fotos durchzusehen, und nur allzu bald schien ich mehr als genug der gewünschten Beweise in den Händen zu halten.
Eine etwas körnige Aufnahme zeigte beispielsweise ein junges Paar, das auf der Klippe stand. Das lange Haar der Frau wehte im Wind, der Hut des Mannes saß in einem verwegenen Winkel auf seinem Kopf. Zweifellos ein schönes Pärchen, doch was mich wie ein Schlag traf, war die Erkenntnis, dass die beiden Hannah und Simeon waren. Ich hatte ihre Gesichter erkannt ! Meine Fantasie hatte mir demnach also keinen Streich gespielt, sondern ich hatte meine Urgroßeltern wirklich gesehen, als Iris mich mit ihren Geschichten eingelullt hatte. Wie war das nur möglich? Ich hatte keine Erklärung dafür.
Vorsichtig nahm ich das Foto eines kleinen Jungen zur Hand und wusste sofort, dass ich dort Charles vor mir sah. Er lag, von einigen Tieren umgeben, in der Scheune, aber ich konnte nicht erkennen, um was für Tiere es sich genau handelte. Ich kniff die Augen zusammen, und plötzlich schien das Foto größer zu werden, sich zu öffnen und mich in seine schwarzweiße Welt hineinzuziehen. Plötzlich sah ich, wie Charles seine Bücher zusammenpackte. »Kommt, wir müssen gehen!«, rief er seinem kleinen Zoo zu. Seine melodische, fröhliche Stimme wärmte sofort mein Herz. Er trottete zum Scheunentor hinaus, und ich folgte ihm, setzte einen Fuß vor den anderen, bis ich ihn erneut sah. Diesmal an einem Pult am Fenster einer winzigen Dorfschule. Ich bemerkte ein paar Vögel, die auf dem Fensterbrett saßen, vor der Tür des Schulhauses zusammengerollte Hunde und aus dem Wald herausspähende Rehe. Sie warteten tatsächlich auf ihn. Es war alles wahr.
Die Szene wechselte abermals, und nun sah ich Kinder im Klassenzimmer, die Charles hänselten. »Na, hat der Rattenfänger wieder seine Viecher hergelockt?«, riefen sie, während der Angesprochene, ohne auf sie zu achten, glücklich zur Tür hinauslief und sich unter seine vierbeinigen Freunde mischte. Eine ganze Schar von Tieren – Fledermäuse, Waschbären und Eichhörnchen – geriet in mein Blickfeld und zog wieder von dannen, und dann sah ich die Kinder, die Charles geärgert hatten, auf einmal schreiend und schluchzend nach Hause stürmen. Eines wurde von einem Waschbären verfolgt, eine Fledermaus krallte sich in das Haar eines anderen.
Ich nahm das alles fast ehrfürchtig in mich auf, betrachtete die schwarzweißen Bilder meines Großvaters als kleiner Junge wie gebannt, und hoffte nur, sie würden sich nicht im nächsten Moment wieder vor meinen Augen auflösen. Doch es dauerte nicht lange, bis genau das geschah.
Die Scheune verblasste und verwandelte sich in eine Kirche, die bis zur letzten Bank mit Trauergästen besetzt war. Unter ihnen war auch Hannah, ganz in Schwarz gekleidet und mit einem dunklen Schleier vor dem Gesicht. Sie saß in der ersten Reihe, neben einem erwachsenen und nun ausgesprochen attraktiven Charles. Jetzt wusste ich, dass ich der Beerdigung meines Urgroßvaters Simeon beiwohnte.
Im nächsten Moment befand ich mich in
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