Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
Vom Netzwerk:
einen Blick in die alten Akten über den Fall Sutton werfen.«
    Will verspeiste das letzte Stück Pastete, dann schüttelte er den Kopf. »Lass mich raten: Du hast nichts erreicht.«
    »Woher weißt du das?«
    »Die Beamten würden dir doch niemals Einsicht in die Akten gewähren, Hallie! Das hätte ich dir gleich sagen können.«
    Ich seufzte. »Aber welche Möglichkeit gibt es dann, mehr über das herauszufinden, was an jenem Tag geschehen ist? Ich bin der einzige noch lebende Mensch, der am Tatort war, und ich kann mich an nichts erinnern. Ich dachte, wenn ich diese Akten läse, würde sich meine Gedächtnisblockade vielleicht lösen.«
    »Ich sagte ja auch, dir würden sie keine Einsicht gewähren.«
    »Aber dir würden sie sie aushändigen?«
    Will grinste wie ein verschmitzter Kobold. »Ich bin mir nicht sicher. Aber dies ist eine sehr kleine Stadt, und solche alten Akten werden hier sicher nicht gerade bewacht wie das Gold in Fort Knox. Ich werde mal sehen, was sich tun lässt …«

20
    »Heute kommen wir zu der Geschichte Ihres Großvaters«, verkündete Iris am nächsten Tag beim Morgenkaffee.
    »Er war der Tierarzt der Insel, nicht wahr?«
    »Das ist richtig. Doch bevor er Tierarzt wurde, war Charles erst einmal ein kleiner Junge, der genau am zweiten Todestag seiner Schwestern geboren wurde.« Iris schloss die Augen. »Er war ein glückliches Baby und Kleinkind, rund, rosig, blauäugig und mit einem blonden Haarschopf. Ich hing ganz besonders an ihm, weil wir so viel Zeit miteinander verbrachten. Mir war nämlich die Aufgabe übertragen worden, mich um ihn zu kümmern und auf ihn aufzupassen, müssen Sie wissen.«
    Vor meinem geistigen Auge entstand das Bild eines jungen, lebenslustigen Mädchens, dessen Haar im Wind wehte, während es einen Kinderwagen durch den Garten schob und dem Baby darin etwas vorsang. Iris?
    »Ich war damals elf oder zwölf – seit dem Tod der Drillinge war ich ganz schön in die Höhe geschossen und viel reifer geworden – und meine Mutter schlug Hannah vor, mich als Kindermädchen für Charles einzusetzen. Die Idee gefiel Hannah, die damals stark von anderen Dingen in Anspruch genommen wurde. Seit der Séance an jenem furchtbaren Tag hatte sie Martine nicht mehr gesehen, obwohl sie nichts unversucht gelassen hatte, um sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Die Medizinfrau war verschwunden, ihr Häuschen im Sommertal leer geräumt. Niemand hat je erfahren, was aus der Hexe geworden und wo sie hingegangen ist. Und wie es ihr überhaupt gelingen konnte, Grand Manitou zu verlassen, ohne dass irgendjemand, noch nicht einmal der Fährkapitän, sie dabei sah. Als die Zeit verging, begann Hannah, langsam an ihrem eigenen Verstand und ihren Erinnerungen zu zweifeln, und fragte sich, ob Martine überhaupt jemals existiert hatte.«
    »Ich kann gut nachempfinden, wie sie sich gefühlt haben muss«, murmelte ich, an meinem Kaffee nippend. Während ich trank, schwebte eine weitere Vision vor mir in der Luft: Charles als Baby in der Obhut einer wachsamen Iris. Ich warf meinem Gegenüber einen fragenden Blick zu.
    Die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten. »Sie haben seit jeher die Fähigkeit besessen, die Geister zwischen den Welten zu sehen, Halcyon. Sie zeigen sich Ihnen – zeigen Ihnen die entscheidenden Momente ihres Lebens.«
    »Aber wie …«
    Iris schnitt mir das Wort ab. »Abwarten, Kind! Ihre Geschichte hören Sie an einem anderen Tag. Heute sprechen wir über Charles.«
    Ich fügte mich und trank einen weiteren Schluck Kaffee, als sie fortfuhr: »Charles war ein ungewöhnlich freundliches, gutmütiges und gehorsames Kind. Er hatte ein sonniges Naturell, man hörte ihn ständig lachen oder sah ihn lächeln. Vielleicht hat sich deswegen niemand etwas dabei gedacht, als er im Alter von zwei Jahren noch kein einziges Wort gesprochen hatte.«
    »Mit zwei? Das ist doch ziemlich spät für ein Kind, mit dem Sprechen anzufangen, nicht wahr?«
    Iris nickte. »Das war es allerdings. Nach seinem zweiten Geburtstag begann sich Hannah allmählich Sorgen zu machen. Ich begleitete sie mehrmals zu Ärzten auf dem Festland, die aber nicht feststellen konnten, was dem Jungen eigentlich fehlte. Also beschloss ich, Charles selbst das Sprechen beizubringen. Ich las ihm vor und lehrte ihn das Alphabet. Dabei pflegte ich auf die Buchstaben zu deuten und sie ihm laut vorzusprechen: A, B, C und so weiter. Charles zeigte zwar keine Reaktion, aber ich wusste trotzdem, dass er zuhörte und

Weitere Kostenlose Bücher