Insel der Schatten
dampfenden überbackenen Brokkolis und lauschte, als sie sich tatsächlich bald räusperte und zu sprechen begann.
»Auch nach Hannahs Tod ging das Leben hier im Haus weiter. Während der nächsten Jahre entwickelte sich zwischen Charles und mir eine angenehme freundschaftliche Beziehung. Er baute sich eine blühende Tierarztpraxis auf, während ich ihm den Haushalt führte und die drei Hilfen beaufsichtigte. Jeden Tag sorgte ich dafür, dass Charles’ Frühstück, Mittag- und Abendessen pünktlich auf dem Tisch standen. Er war inzwischen zu einem stattlichen Mann herangereift.
Natürlich trauerte er auch weiterhin um seine geliebten Eltern. Vermutlich zog ihn gerade das zu Amelia hin, der Frau, die später Ihre Großmutter werden sollte. Sie sah Hannah interessanterweise sehr ähnlich; sie hatten dieselben feurigen Augen.
Amelias Eltern, ein wohlhabendes irisches Ehepaar aus Chicago mit Namen Foster, hatten sich wenige Jahre zuvor ein Ferienhaus auf Grand Manitou gebaut. Charles hatte im Lauf der Jahre des Öfteren Kontakt mit der Familie Foster gehabt und auch Amelia ein- oder zweimal gesehen, ihr aber nie besondere Beachtung geschenkt. Aber in dem Jahr, als Hannah starb, zog Amelia mit ihren Eltern auf die Insel. Ihr Vater war nicht dumm; er hoffte wohl, der vermögende, unverheiratete Tierarzt würde Gefallen an seiner Tochter finden. Also beschloss er, eine kleine Party zu veranstalten, in deren Rahmen sie einander vorgestellt werden konnten.
Als Amelia ein paar Tage nach dem Fest mit einer kranken Katze vor der Tür stand, versuchte ich sie fortzuschicken. Ich hatte sie durchschaut und wusste genau, weshalb sie wirklich gekommen war. Aber sie ließ sich nicht abwimmeln, machte sich auf eigene Faust auf die Suche nach Charles und fand ihn schließlich in der Scheune.«
Bei der Erinnerung daran runzelte Iris die Stirn, woraufhin ich mich unwillkürlich fragte, ob sie vielleicht früher in Charles verliebt gewesen war. Gut, sie war sein Kindermädchen gewesen, aber sie war immerhin noch nicht einmal zehn Jahre älter als er. Man musste diese Möglichkeit durchaus in Betracht ziehen. Also warf ich scheinbar beiläufig ein: »Iris, Sie haben in Ihren Geschichten über meine Familie etwas ausgelassen. Haben Sie eigentlich nie geheiratet?«
»Ich – geheiratet?« Sie spie die Worte förmlich aus. »Mein Leben spielte sich in diesem Haus ab und drehte sich ausschließlich um die Familie Hill! An die Ehe habe ich nie gedacht.«
»Entschuldigen Sie, ich wollte nicht indiskret sein.«
»Tut nichts zur Sache … Kurze Zeit später waren Charles und Amelia jedenfalls verheiratet. Sie war eine magere, schmächtige Frau mit kurzem, dunklem Haar und tiefblauen Augen. Sie trug gerne Hosen, was damals noch bei vielen Frauen verpönt war, und sie war sehr sportlich: Sie spielte gern Golf und Tennis und unternahm ausgedehnte Nachmittagsspaziergänge mit ihrem Mann. Als sie als Charles’ Ehefrau in dieses Haus einzog, machte ich ihr als Erstes unmissverständlich klar, dass ich hier das Sagen hatte und das Personal mir unterstand. Ich erklärte ihr, wie die Dinge hier liefen, und ersuchte sie, den gewohnten Tagesablauf nicht zu stören. Und ich ließ von Anfang an keinen Zweifel daran, dass ich die ganzen letzten Jahre für Charles gesorgt hatte. Für ihn dagewesen war, als Simeon starb und die arme Hannah den Verstand verlor, und eigenhändig seine Mahlzeiten zubereitet und seine Wäsche gewaschen hatte.«
Ich sah wilde Entschlossenheit in Iris’ Augen aufblitzen. Ihr Gesicht verdüsterte sich, so wie es immer der Fall war, wenn sie zornig wurde. Sie hatte ihn also tatsächlich geliebt. Ich fröstelte. Amelia war nicht gerade zu beneiden gewesen. Wie sie wohl mit Iris ausgekommen war?
»Natürlich änderte sich mit ihrer Ankunft trotzdem alles«, fuhr die alte Haushälterin bitter fort. »Unser einfaches, ruhiges Dasein gab es fortan nicht mehr. Abends hatte sich Charles gern in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und gelesen. Ich hatte ihm dann oft seinen Tee gebracht und mich mit einer Näharbeit eine Weile zu ihm gesetzt.
Alldem setzte Amelia ein Ende. Sie war eine extrem redselige, überschwängliche, lebhafte Person. An ihrer Seite ging Charles mehr aus sich heraus, als ich es je bei ihm erlebt hatte, er lachte oder lächelte in einem fort. Jeder konnte sehen, wie sehr er sie liebte.«
Die Resignation, die in Iris’ Stimme mitschwang, entging mir nicht.
»Sie lebten in einem Strudel von Partys, Einladungen
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