Insel der Schatten
meinem Haus auf der Insel; ich stand in der Küche. Dort sah ich Hannah im Nachthemd, das Haar zerzaust, mit wild funkelnden Augen und Lippen, die Worte formten, ohne dass ein Laut aus ihrer Kehle drang. Von meinem Platz am Fenster aus beobachtete ich, wie sie in den Regen hinauslief und draußen unaufhörlich die Hände gegeneinanderrieb, als versuche sie, etwas von ihnen abzuwaschen. Vielleicht sogar Blut.
Und dann sah ich sie wie von einem Magneten angezogen auf die Klippe zusteuern. »Nein, Hannah!«, schrie ich und rannte auf sie zu, aber sie konnte mich natürlich nicht hören. Ich war ja nur ein unsichtbarer, unbeteiligter Beobachter. So blieb mir nichts anderes übrig, als hilflos zuzusehen, wie sie am Rand des Felsens stehen blieb, sich nach vorne fallen ließ, im Zeitlupentempo in die Tiefe stürzte, dumpf auf dem Boden aufschlug und mit zerschmetterten Gliedern fast an derselben Stelle liegen blieb, wo Jahre zuvor ihre Töchter gefunden worden waren.
Als ich die Augen wieder aufschlug, fand ich mich auf dem Sofa im Wintergarten wieder. Ich setzte mich auf, schüttelte den Kopf und versuchte zu begreifen, was mit mir geschehen war. Überall lagen Fotos verstreut, und den Karton, den ich durchstöbert hatte, entdeckte ich umgekippt auf dem Boden. War ich eingeschlafen? Hatte ich das alles nur geträumt?
Später, als ich mit Will beim Abendessen saß, schlug ich eines der Alben auf.
»Das ist mein Großvater.« Ich deutete auf ein Foto von Charles mit seinen Tieren.
Will studierte es mit einem leisen Lächeln. »Ich kann mich noch recht gut an ihn erinnern. Natürlich war er weit älter als auf diesem Bild.«
»Er hat noch gelebt, als wir Kinder waren?« Dieser Gedanke war mir überhaupt noch nicht gekommen.
Er nickte. »Jeder hier auf der Insel hat deinem Großvater seine Pferde anvertraut – von Haustieren und Vieh ganz zu schweigen.«
»Iris sagte, er hätte schon von klein auf eine ganz besondere Beziehung zu Tieren gehabt. Scheinbar hat er kein Wort gesprochen, bis er fünf war, und dann fing er von einem Tag auf den anderen an, vollständige Sätze von sich zu geben.«
Will nahm meine Hand. »Du genießt es richtig, all diese Geschichten über deine Familie zu hören, nicht wahr?«
Er versteht mich noch nicht einmal ansatzweise, dachte ich resigniert. »Es bedeutet mir alles«, erklärte ich knapp und klappte das Album zu. Mit Will bevorzugte ich das Hier und Jetzt.
Am nächsten Morgen erschien Iris nach dem Frühstück an der Hintertür.
»William Archer sagte gestern, er hätte Charles gekannt«, empfing ich sie ohne Umschweife.
Iris nickte. »Natürlich. Jeder hier auf der Insel kannte ihn. Aber zu William Archers Zeiten war Charles schon ein alter Mann. Und über die dazwischen liegenden Jahre gibt es noch viel zu erzählen.«
Mit dieser verheißungsvollen Ankündigung machte sich Iris an die Arbeit. Der Fortgang meiner Familiengeschichte würde also warten müssen, bis sie mit allem fertig war.
Da ich nicht wusste, was ich sonst mit mir anfangen sollte, zog ich meine Jacke an, die an einem Haken neben der Hintertür hing, ging nach draußen und machte mich auf den Weg zur Scheune, die ich bislang noch nicht betreten hatte.
Die Pferde waren noch immer bei Madlyns Nachbarn untergebracht. Ich hatte im Moment genug um die Ohren und weder die Zeit noch die Lust, mich in die Geheimnisse der Pferdehaltung einweihen zu lassen. Als ich das Scheunentor aufstieß und es hinter mir zufiel, drohte mich der süßliche Geruch des Heus fast zu überwältigen. Innen war es dämmrig; nur durch die Ritzen in den Wänden und die winzigen, schmutzigen Dachfenster fielen ein paar Lichtstrahlen herein und ließen die in der Luft tanzenden Staubkörnchen flimmern. In einer Ecke stand ein Damenfahrrad mit einem am Lenker befestigten Korb – nicht mehr neu, aber gut erhalten. Es musste meiner Mutter gehört haben. Das perfekte Fortbewegungsmittel für diese Insel! Ich beschloss, unverzüglich eine Spritztour zu machen, schob das Rad in den Sonnenschein hinaus, schwang mich in den Sattel und fuhr auf die Hauptstraße zu.
Ins Städtchen hinunter wollte ich nicht, denn der Rückweg hügelaufwärts würde eine einzige Schinderei werden, also schlug ich die entgegengesetzte Richtung ein. Hier wurden die Abstände zwischen den Häusern immer größer, bis ich mich schließlich auf dem freien Land befand.
Mir gefallen alle Jahreszeiten, aber der Spätherbst hat immer einen ganz besonderen Reiz: Die Blätter
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