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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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haben sich schon mit einem spektakulären Farbenspiel von den Bäumen verabschiedet, die sich für die nun bald einsetzende Kälte wappnen, und alles ringsum ist braun und vergilbt. Es scheint die Zeit kurz vor dem Tod der Natur durch den Winter zu sein, ehe dann der nächste Frühling deren Wiedergeburt einleitet.
    Bald gelangte ich in einen Zedernwald. Ein unbefestigter Pfad führte von der Straße tief in das Baumdickicht hinein, und mir fiel auf einmal Iris’ Beschreibung wieder ein. Konnte das der Weg zum Sommertal sein? Entschlossen, genau das herauszufinden, lenkte ich mein Rad von der Straße auf den Pfad, der nach einer halben Stunde auf einer von riesigen alten Bäumen gesäumten Lichtung endete. Das Gras war mit einem Gemisch von Wildblumen durchsetzt: Lupinen, Gänseblümchen, Mohn und wilde Rosen. Wieso blühten die hier zu dieser Jahreszeit noch? Ich blieb einen Augenblick lang unschlüssig stehen, dann stellte ich das Fahrrad ab, um die Gegend zu Fuß zu erkunden. Auf einer Fläche, auf der einst ein Haus gestanden zu haben schien, entdeckte ich die verfallenen Überreste eines alten Kamins und schloss daraus, dass ich tatsächlich das Sommertal gefunden hatte.
    Wahnsinn, dachte ich, während ich mit angehaltenem Atem tiefer in das Tal vordrang. Ich wollte möglichst kein Geräusch verursachen, das die hier schlummernden Erinnerungen zum Leben erwecken konnte. Und dann schloss ich die Augen und versuchte, das zu gebrauchen, was Iris meine Gabe genannnt hatte. Fast im selben Moment formte sich vor meinem geistigen Auge ein Bild von ein paar wohlhabenden Damen, die, von Kopf bis Fuß in Umhänge gehüllt, gerade hierherschlichen, um Martine um einen ihrer magischen Tränke zu bitten.
    Ich musste an meine arme Urgroßmutter denken, die sich so verzweifelt ein Kind gewünscht hatte, dass sie sogar bereit gewesen war, Hexerei in Kauf zu nehmen, um eines zu empfangen. Und dann schlug ich abrupt die Augen wieder auf, als mir noch etwas ganz anderes klar wurde: Keiner von uns, weder Charles noch meine Mutter noch ich selbst, wären je geboren worden, wenn die Medizinfrau Hannah damals nicht just an diesem Ort ihre geheimnisvollen Kräuter gegeben hätte.
    In diesem Moment hörte ich wieder eine Stimme.
    Durch Hexerei gezeugte Kinder sind selbst Hexen.
So wie ihre Kinder und deren Kinder …
    Charles’ nahezu übernatürliches Geschick im Umgang mit Tieren fiel mir ein – war das vielleicht seine Form der Hexerei gewesen? Und was war mit meinen Visionen?
    Ich spürte, dass ich nicht länger allein war. Irgendetwas – nein, viele unsichtbare Wesen wirbelten rings um mich herum durch die Luft, stupsten mich an, zupften an meinen Kleidern, sodass ich mir vorkam, als wäre ich mitten in einen aus Geistern bestehenden Wirbelsturm geraten. Ohne zu zögern rannte ich auf mein Fahrrad zu, doch einige Rosenbüsche wuchsen auf einmal vor mir in die Höhe, versperrten mir den Weg und griffen mit ihren knorrigen Zweigen nach mir. Nach Atem ringend kämpfte ich mich durch das Dornengestrüpp, bis ich mein Rad erreichte, saß auf und machte, dass ich davonkam.
    Wieder im schattigen Zedernwald angelangt, hielt ich kurz an, um meine Arme und Beine zu untersuchen, die mit Sicherheit aufgeschürft waren und bluteten. Aber zu meiner Überraschung konnte ich keinen einzigen Kratzer entdecken.
    Während ich langsam nach Hause radelte, fragte ich mich, was in aller Welt gerade eben dort in diesem Tal geschehen war.

23
    »Sie waren im Sommertal«, stellte Iris sachlich fest. Sie zog gerade einen Brokkoliauflauf mit Hühnchen aus dem Herd, als ich zur Hintertür hereinkam.
    Ich nickte nur und beugte mich vor, um Atem zu schöpfen. Meine Beinmuskeln schmerzten, meine Kehle fühlte sich wie ausgedörrt an. Ich füllte ein Glas mit kaltem Wasser und leerte es in einem Zug.
    »Sie sollten nicht dorthin gehen. Zumindest vorerst noch nicht.« Ein ernster Ausdruck war in Iris’ Augen getreten.
    »Was ist denn dort nur los?«, erkundigte ich mich, füllte das Wasserglas erneut und strich mir eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. »Ich kam mir da mit einem Mal so vor, als würde ich …« Verlegen brach ich ab. »Schon gut, nicht weiter wichtig.«
    Das Wasser lief mir im Mund zusammen, als ich den Auflauf beäugte. Nach dem, was mir gerade widerfahren war, wollte ich nur noch in der Geborgenheit und Vertrautheit von Iris’ Geschichten Trost suchen. Und essen. Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken, probierte einen Löffel des

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