Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
mehr gehört oder gesehen hatte.
Nicht meine Schuld, machte sich Jo klar, als sie die Straße überquerte. Es war Annabelles Schuld. Alles war anders geworden, nachdem Annabelle Sanctuary den Rücken gekehrt und ihre vollkommen fassungslose Familie zerstört und mit gebrochenen Herzen zurückgelassen hatte. Das Dumme war, so sah Jo es, daß die anderen niemals darüber hinweggekommen waren. Sie schon.
Sie war nicht auf der Insel geblieben, um jedes Sandkorn zu bewachen, wie es ihr Vater tat. Sie hatte ihr Leben nicht darauf ausgerichtet, Sanctuary in Schuß zu halten, wie es ihr Bruder Brian tat. Und sie hatte sich nicht in alberne Phantasien und schnelle Abenteuer gestürzt wie ihre Schwester Lexy.
Statt dessen hatte sie studiert, gearbeitet und sich ihr eigenes Leben aufgebaut. Und wenn sie jetzt etwas zittrig auf den Beinen war, dann nur, weil sie es übertrieben hatte, weil sie sich zu großem Druck ausgesetzt hatte. Sie war ein bißchen ausgepumpt, nichts weiter. Ein paar Vitamine, und schon wäre sie wieder fit.
Vielleicht sollte ich mal Urlaub machen, dachte Jo, als sie den Schlüsselbund aus ihrer Tasche kramte. Es war schon drei – nein, sogar vier – Jahre her, daß sie ganz privat, ohne einen Foto-Auftrag in der Tasche, verreist war. Vielleicht Mexiko oder die Karibik. Irgendwo, wo es gemächlicher zuging und die Sonne schien. Einfach mal einen Gang runterschalten und zur Ruhe kommen. So würde sie den kleinen Durchhänger überwinden.
Als sie in die Wohnung kam, trat sie auf einen kleinen, quadratischen Briefumschlag, der auf dem Boden lag. Einen Moment lang stand sie wie angewurzelt da und starrte, eine Hand an der Türklinke, die andere um die Kamera gelegt, auf den Umschlag.
War er schon dagewesen, als sie die Wohnung verlassen hatte? Warum lag er direkt hinter der Tür? Der erste war vor einem Monat angekommen, zwischen ihrer gewöhnlichen Post, nur mit ihrem Namen in Druckbuchstaben darauf.
Ihre Hände begannen wieder zu zittern, als sie sich befahl, die Tür zu schließen und den Schlüssel herumzudrehen. Ihr Atem stockte, aber sie bückte sich und hob ihn auf. Vorsichtig legte sie die Kamera ab und öffnete den Umschlag.
Als sie den Inhalt herausnahm, gab sie ein langgezogenes, leises Stöhnen von sich. Das Foto war sehr professionell aufgenommen und auf Standardformat zurechtgeschnitten. Wie die anderen drei. Die Augen einer Frau, schwere Lider, mandelförmig, mit langen Wimpern und fein geschwungenen Brauen. Jo wußte, daß sie blau waren, tiefblau, denn es waren ihre Augen. Blankes Entsetzen spiegelte sich in ihnen.
Wann war das Foto entstanden? Wie und warum? Fassungslos schlug sie die Hand vor den Mund, starrte auf die Aufnahme und wußte, daß in diesem Moment der Ausdruck ihrer Augen perfekt mit dem auf dem Foto übereinstimmte. Panik
überkam sie. Sie rannte quer durch die Wohnung in das kleine Gästezimmer, das sie als Dunkelkammer eingerichtet hatte. Hektisch riß sie eine Schublade auf, durchwühlte den Inhalt und stieß schließlich auf die Umschläge, die sie dort vergraben hatte. In jedem steckte eine andere Schwarzweißaufnahme, zehn mal fünfzehn Zentimeter groß.
In ihren Ohren pochte das Blut, als sie die Abzüge nebeneinanderlegte. Auf dem ersten waren die Augen geschlossen, als wäre sie im Schlaf fotografiert worden. Die beiden nächsten zeigten Schritt für Schritt das Erwachen. Die Lider ganz leicht geöffnet, nur einen Hauch der Iris zeigend. Auf dem vierten waren die Augen ganz offen, aber unscharf und umwölkt.
Sie hatten sie verunsichert, ja sogar nervös gemacht, als sie sie in ihrer Post gefunden hatte. Aber sie hatten ihr keine Angst eingejagt.
Und jetzt die letzte Aufnahme. Genau auf ihre Augen gerichtet. Auf ihre hellwachen, schreckerfüllten Augen.
Jo trat zurück und erschauderte. Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben. Warum nur die Augen? fragte sie sich. Wie war ihr jemand so nah gekommen, ohne daß sie es gemerkt hatte? Wer auch immer es gewesen war, er mußte eben unmittelbar auf der anderen Seite ihrer Wohnungstür gestanden haben.
Erneut von Panik ergriffen, rannte sie in die Diele und überprüfte hektisch die Türschlösser. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen, als sie sich mit dem Rücken gegen die Tür fallen ließ. Dann wurde sie wütend.
Mistkerl, dachte sie. Er wollte sie terrorisieren. Er wollte, daß sie sich in ihrer Wohnung verkroch, beim Anblick ihres eigenen Schattens in Panik geriet und aus lauter Angst, daß er sie beobachten
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