Insel der Träumer
vom gähnenden Abgrund entfernt. Der rasende Schmerz wühlte ihn auf und riss ihn aus dem Bann, der seinen Geist mit eisernen Klauen würgte. Entsetzt blickte er in die Tiefe, und für ein, zwei Augenblicke wusste er nicht, wo er hier war, was er hier suchte und tat. Dann traf ihn die Erkenntnis, und mit einem gellenden Schrei sprang er auf. Der stechende Schmerz in den Beinen drohte ihm die Besinnung zu rauben. Die Knie bluteten, aber nichts schien gebrochen zu sein.
Golad! Farina!
Sie waren verschwunden! Er hatte sie gehen lassen! Ein einziger Augenblick der Unachtsamkeit hatte ausgereicht, um vielleicht ihr Schicksal für immer zu besiegeln! Rasend vor Zorn auf sich selbst und seinen unglaublichen Leichtsinn, sah Mythor die Insel wieder so, wie sie wirklich war. Kein Trugbild war mächtig genug, um in diesen Momenten von ihm Besitz zu ergreifen. Er humpelte, als er die ersten Schritte machte, doch der Zorn war mächtiger als der Schmerz. Er erreichte die Stelle, an der er die Geblendeten zuletzt gesehen hatte, und fand den Pfad zwischen den Klippen. Weit und breit war nichts zu sehen von Golad und Farina. Lauerte das Verderben im Meer? Hatte es sie dorthin zu sich geholt?
Mythor legte die Hände an den Mund und rief nach ihnen. Weit hallten seine Schreie über die Bucht und vermischten sich mit dem Rauschen und Mahlen der anrollenden Wellen, die wie von einem plötzlichen Sturm gepeitscht gegen die Klippen schlugen.
Niemand antwortete ihm.
Jetzt, während er noch hier stand, geschah etwas Entsetzliches! Er spürte es in jeder Faser seines Herzens. Ohne länger zu zögern, stürmte der Sohn des Kometen die Felsvorsprünge hinab, übersprang einige kleinere und balancierte mit den Armen um sein Gleichgewicht. Er rutschte aus, fing sich und lief weiter. Die Stufen führten zwischen den Klippen hindurch, die geradewegs in den Himmel zu stoßen schienen. Einmal nur blieb Mythor stehen, um Atem zu holen. Er sah in die Höhe, und da waren keine leuchtenden Sterne mehr über ihm, kein Mond und kein nebliges Band. Dunkle Wolken verfinsterten das Firmament, und sie senkten sich langsam auf ihn herab. Sie kamen plötzlich aus allen Richtungen, wie magisch beschworen.
Mythor hastete weiter, ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben. Seine Füße fanden immer wieder Halt. Tiefer gelangte er, durchstieß die Wolken und sah zeitweise kaum fünf Fuß weit. Die Nebel wurden noch dichter und dunkler. Panische Angst schlich sich in Mythors Herz, denn aus den Wolken schienen sich dämonische Fratzen zu schieben. Doch nicht sie waren es, die er so fürchtete. Er dachte an seinen Schatten, an den Deddeth, und als er das Ende des Pfades erreichte, war er nahe daran zu glauben, der Schatten selbst müsse sich hinter der dämonischen Macht verbergen, von der Rachamon gesprochen hatte.
Es gehörte die Willenskraft eines Mannes dazu, der mehr als einmal den Ausgeburten der Finsternis gegenübergestanden hatte, um diese Schreckensbilder zu bannen. Mythor sah sich nach allen Seiten hin um. Er stand auf einer Felsplattform, nur wenige Mannslängen über dem Meer. Auch hier fand er keine Spuren der Verschwundenen. Doch wenige Schritte vor ihm gähnte die Öffnung einer gewaltigen Grotte.
»Golad!« schrie er. »Farina! Bei Quyl und Erain, so antwortet!«
Nicht sie antworteten ihm, doch nun schlug das Unbekannte mit aller Macht zu. Mythor war vorbereitet. Wie ein wütender Stier, der sein Ziel erfasst hatte, arbeitete er sich auf den Eingang der Grotte zu und kämpfte gegen den Drang an, umzukehren und sich in die Fluten zu stürzen. Als hätte sein Gegner erkannt, dass er nicht noch einmal zu überrumpeln war, wich der Druck so schnell, wie er gekommen war.
Und als Mythor sich noch fragte, ob er es nicht als Anzeichen einer Verwirrung seines Gegners zu werten hatte, dass dieser ihm nicht einfach auch den Ruf schickte, sah er, dass dies gar nicht mehr nötig war. Er brauchte nicht mehr auf die Traumreise zu gehen, um in die Fänge des Ungeheuers zu geraten.
Er stand in der riesigen Grotte. Wasser drang aus den feuchten Wänden und rann in kleinen Rinnsalen über den Fels. Von der gewölbten Decke tropfte es herab. Unheimliche schleifende Geräusche kamen von dort, wo sich die dunklen Schleier zusammenballten. Mythor hob einen schweren Stein auf und drang in sie ein. Er rief nach den Verschwundenen, wieder ohne Antwort zu erhalten.
Doch plötzlich spürte er eine Gier in sich, so fremdartig, dass er für die Dauer eines Atemzugs wieder
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