Insel der Träumer
über den Rand des Abgrunds schob. Der Anblick der Insel, so, wie sie wirklich war, war zu viel für ihn. Blitzschnell packte Mythor seine Arme und zog ihn zu sich hoch, dann Farina, die nur einmal heiser aufschrie, bevor sie neben dem Gefährten zusammenbrach.
*
»Ich… kann es nicht fassen!« Golad saß auf den Klippen und schüttelte den Kopf.
»Und doch ist es so. Ihr wisst es nun, und ich weiß es. Doch die Menschen im Dorf werden sich weiterhin danach sehnen, auf die Traumreise gehen zu dürfen. Einer nach dem anderen wird dem Lockruf des Kraken folgen und in sein Verderben gehen. Es ist so, wie ich vermutete. Die hier Gestrandeten werden gemästet wie Vieh. Die Kinder, die die wenigen wirklichen Frauen gebären, sind schon zum Sterben verurteilt, sobald sie das Licht der Welt erblicken.«
Farina saß zusammengekauert neben dem Gefährten. Sie hatten sich beide einigermaßen gefangen. Sie konnten um sich blicken, ohne zusammenzuschrecken. Wie Mythor brauchten sie nun nicht mehr gegen die trügerischen Träume anzukämpfen, die das Krakenungeheuer ausschickte. Der erlittene Schock war zu groß gewesen. Sie waren gefeit, obwohl sie spürten, wie vehement der Krake angriff.
»Wie kann ein Wesen aus Fleisch und Blut solche Macht über Hunderte von Menschen und die ganze Natur dieser Insel gewinnen?« fragte Golad.
Mythor hob die Schultern und betastete die blauen Flecken auf seinem Schienbein. Das Blut war verkrustet. »Äußerlich mag es ein Wesen aus Fleisch und Blut sein, Golad«, sagte er. »Doch in ihm ist die Macht der Finsternis.«
Golad atmete tief ein und blickte Mythor forschend an. »Und was tun wir jetzt? Kann Rachamon uns helfen?«
»Er hat genug mit sich selbst zu tun«, murmelte der Sohn des Kometen. »Vielleicht finden wir im Wrack der Gasihara Waffen, mit denen wir dem Kraken zu Leibe rücken können. In der Zwischenzeit aber sind unsere Freunde im Dorf in größter Gefahr. Ich könnte mir denken, dass das Ungeheuer nun nicht mehr auf die Nacht wartet, um sich neue Nahrung zu holen.«
»Niemand hörte auf dich«, erinnerte Farina ihn. »Es macht keinen Unterschied, ob einer oder drei ihnen die Wahrheit sagen.«
»Das weiß ich. Aber ich will wenigstens versuchen, Sadagar und einige andere zur Vernunft zu bringen, falls nötig, mit Gewalt. Allein richten wir auch mit den besten Waffen nichts gegen den Kraken aus.«
»Wir kehren also zurück?«
»Wir versuchen, einige kräftige Männer außerhalb des Dorfes zu überwältigen.« Mythors Stimme verriet nicht allzu viel Hoffnung. »Es gibt nur diesen Weg. Wir müssen sie betäuben und zu Rachamon bringen, in die Höhle. Er wird sie mit dem gleichen magischen Schutz versehen müssen wie mich. Wenn wir genug Männer beisammenhaben, die die Trugbilder durchschauen, klettern wir zur Gasihara hinab.«
Golad war anzusehen, dass ihm dieses Vorgehen ganz und gar nicht behagte. Doch schließlich nickte er finster. Farina schmiegte sich schutzsuchend an ihn und blickte Mythor aus ihren großen dunklen Augen an. Wie auch Golad trug sie wieder ihren Lendenschurz.
»So sei es denn«, knurrte der Hüne. »Komm, lass uns von diesem verfluchten Ort verschwinden.«
»Die ganze Insel ist verflucht«, flüsterte Farina. »Haben wir denn überhaupt eine Chance, etwas gegen den Dämon auszurichten?«
Mythor gab keine Antwort.
Finstere Ahnungen plagten ihn, als sie aufbrachen, und die scheuen Blicke, die Golad und Farina um sich warfen, zeigten ihm, dass die beiden den Schock der Erkenntnis noch längst nicht überwunden hatten. Doch sie hielten sich tapfer, und jeder von ihnen versuchte, dem anderen durch entschlossenes Auftreten Mut zu machen.
Die drei Menschen bahnten sich ihren Weg durch die Landschaft, die selbst das Licht der Sonne zu fliehen schien. Grauer Dunst lag über dem kahlen Boden. Überall huschte kleines Getier umher.
Irgend etwas sagte Mythor, dass sie sich beeilen mussten, dass im Norden der Insel etwas Unheilvolles geschah. Er beschleunigte seine Schritte und trieb Golad und Farina an. Die innere Unruhe, die ihn erfasst hatte, wuchs und wuchs.
Das Dorf war fast erreicht, als Golad stehenblieb. »Wir sollten nicht weitergehen«, flüsterte er, als hätten die Bäume Ohren. »Ich weiß nicht, warum, aber…«
»Wir sollten doch jetzt schon ihre Stimmen hören«, flüsterte Farina. »Ihr Lachen und…«
Es war totenstill geworden. Kein Wind strich mehr durch die Büsche und Zweige. Kein Laut drang von den Feuern herüber.
»Sie sind
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