Insel meiner Sehnsucht Roman
hätte. Mehrere junge Männer kletterten auf das Dach und entdecken innerhalb weniger Minuten die Stelle, wo der Ziegel fehlte.
»Hier, Lord Hawk!«, rief einer der Burschen. »Ein Ziegel ist verschwunden, andere wurden gelockert.«
»Das will ich sehen.« Royce gab Kassandra in die Obhut eines sichtlich aufgeregten Gorans und stieg nach oben. Die Stirn grimmig gerunzelt, kam er zurück. »Dieses Dach befindet sich in gutem Zustand.«
»Oh ja«, bestätigte der Gastgeber. »Darum habe ich mich stets gekümmert. Dieser Teil wurde erst im Frühling neu gedeckt. Seither sind sicher keine Schäden entstanden. Was da passiert ist, verstehe ich nicht.«
»Mir ist nichts zugestoßen«, versuchte Kassandra den unglücklichen Ratsherrn zu beschwichtigen. »Natürlich weiß ich zu schätzen, wie sehr sich alle um mich sorgen, aber …«
Niemand hörte ihr zu. Auf Royces Befehl verließen die Männer in kleinen Gruppen das Atrium. Einige blieben zurück, um die Atreides zu schützen.
»Was machen sie, Goran?«, fragte sie. »Wohin gehen sie?«
Erstaunt hob er die Brauen, als müsste sie das wissen. »Sie suchen natürlich den Eindringling – oder die Eindringlinge.« Weil sie ihn immer noch verständnislos anschaute, fuhr er fort: »Von selbst kann sich der Ziegelstein nicht gelöst haben. Das ist Lord Hawk sofort klar geworden. Also war jemand da oben.«
»Ein Eindringling …«, begann sie und wollte hinzufügen, dafür gebe es keine Beweise.
Dann merkte sie, wie töricht ihr Einwand wäre. Deilos! Sie wusste zwar nicht, dass er hier gewesen war – oder einer seiner Anhänger, aber sie hatte die Nähe eines Beobachters gespürt. Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust.
Nicht nur ein Beobachter. Da Royce sie viel zu schnell von der Bank gestoßen hatte, glaubte sie nicht an seine zufällige Anwesenheit. Wenn auch er keinen Schlaf gefunden und deshalb den Garten aufgesucht hatte, wäre sie ihm begegnet. Doch das hatte er verhindert.
Er war ihr heimlich gefolgt, um sie zu beschützen. Mit gutem Grund. Diese Erkenntnis beunruhigte sie trotzdem. Irgendwann würde sie die Pflicht erfüllen müssen, die ihr jene beklemmende Vision vor Augen geführt hatte. Und dann durfte sich Royce nicht einmischen. Sie musste frei sein, um zu sterben, denn nichts anderes würde Akora vor der roten Schlange retten.
Ihr Magen drehte sich um, als sie eine heftige Übelkeit bekämpfte. Bei allem, was heilig war – daran wollte sie jetzt nicht denken. Da draußen fahndete Royce nach einem Feind, und womöglich war es derselbe Mann, der schon einmal versucht hatte, ihn zu töten.
»Gehen Sie ihm nach, Goran!«, drängte sie.
»Dem Eindringling, Atreides?«
»Nein – Royce – Lord Hawk! Auf dieser Insel kennt er sich nicht aus. Sicher würde er Ihren weisen Rat begrüßen.«
Keine Sekunde lang ließ sich Goran hinters Licht führen. Mit sanfter Stimme erwiderte er: »Ich glaube, er würde es vorziehen, wenn ich bei Ihnen bliebe, Atreides. Da Sie ein Gast in meinem Haus sind, ist das nur recht und billig. Darf ich Sie jetzt in Ihr Zimmer begleiten?«
Natürlich war das ein vernünftiger Vorschlag. Doch sie würde es nicht ertragen, in diesen vier Wänden auszuharren, bis Royce zurückkehrte. Wie lange mochte das dauern? »Nein, ich möchte lieber hier im Atrium warten.« Als Goran zögerte, fügte sie hinzu: »Sicher ist der Schurke längst geflohen, also wird er mich nicht mehr angreifen. Selbst wenn er noch hier wäre – Ihre Wachtposten und Sie selbst werden zweifellos alles tun, um mich zu schützen.«
Wie seine funkelnden Augen verrieten, merkte er, dass sie ihm schmeichelte. Doch er musste sich wohl oder übel geschlagen geben. »Ihr Wunsch ist mir Befehl, Atreides. Aber ich fürchte, Ihr werdet Euch eine Weile gedulden müssen, bis die Männer zurückkommen.«
»Oh, das stört mich nicht«, erwiderte sie und meinte es ernst – zumindest in diesem Augenblick.
Zwölf Stunden später betrat Royce endlich wieder das Haus. Kassandra war nicht die ganze Zeit im Garten geblieben. Aber sie hatte die Sonne aufgehen sehen. Schließlich siegte ihre Müdigkeit, und sie ließ sich von Gorans Gemahlin ins Gästezimmer führen.
Die gutmütige Frau brachte sie ins Bett, als wäre sie eine ihrer Töchter, und saß bei ihr, bis sie einschlief. Schon nach wenigen Stunden erwachte Kassandra wieder – und musste immer noch auf Royces Rückkehr warten.
Während sie im Atrium umherwanderte, schwankte sie zwischen Geduld und
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