Insel meiner Sehnsucht Roman
keineswegs respektlos erscheinen oder ausschließen, Sie könnten Recht haben. Aber ich bin ein Richter, und was ich für die Wahrheit halte, beruht auf Beweisen.«
»Dann denken Sie über den Charakter des Mannes nach«, schlug Royce vor. »Glauben Sie, Deilos würde eine so wichtige Aufgabe wie die Beseitigung eines potenziellen Verräters jemand anderem anvertrauen? Auch dieser Mann müsste zum Schweigen gebracht und getötet werden – danach noch einer – und noch einer, und so weiter. Früher oder später würde er sich gezwungen sehen, selbst zu handeln.«
»Was Sie da sagen, klingt vernünftig«, gab Marcellus zu. »Vorausgesetzt, der Brandstifter wurde ermordet.«
»Bis jetzt hat sich kein Wachtposten gemeldet und verkündet, er sei der Bogenschütze gewesen.«
»In der allgemeinen Verwirrung …«
»So schlimm war sie nicht«, unterbrach Kassandra den Friedensrichter. Sie saßen wieder im Arbeitszimmer ihres Bruders, wo sie ungestört reden konnten. Im Palast wimmelte es von Menschen. Alle Ratsherren hatten sich eingefunden, auch Polydorus und Goran, die nur wenige Tage auf ihren Ländereien geblieben waren. Sie hatten ihr erklärt, es sei ihre Pflicht gewesen, nach Ilius zurückzukehren. Aber sie kannte den wahren Grund ihrer Anwesenheit. Elenas Verletzung, die sie an der Operation des Vanax hinderte, war kein Geheimnis. Und so wusste jeder, dass die Zeit drängte. Entweder würde Atreus bald zu sich kommen – oder sterben. In beiden Fällen wollten sich die Ratsmitglieder am Schauplatz der Ereignisse aufhalten. »Nach meiner Ansicht trifft Lord Hawks Vermutung zu«, fuhr sie fort. »Der Brandstifter wurde ermordet, weil er nichts ausplaudern durfte. Hinter alldem steckt eine ganz bestimmte Person, und ich glaube, es ist Deilos, dem wir das Handwerk legen müssen.«
»Das bestreite ich nicht«, entgegnete Marcellus. »Aber wir haben ganz Ilius durchsucht, ohne Erfolg. Wenn sich der Feind tatsächlich hier versteckt, wüsste ich gern, wo.«
»Vielleicht ist er nicht mehr hier«, bemerkte Royce widerstrebend. »Er könnte sich an einen sicheren Ort zurückgezogen haben, um zu warten.« Worauf, sprach er nicht aus. Dass er Atreus Tod meinte, erriet Kassandra ebenso wie der Friedensrichter.
»Auch Deimatos und die anderen kleinen Inseln haben wir abgesucht«, betonte Marcellus.
»Die werden von zahlreichen Höhlen durchzogen«, wandte Royce ein. »Deshalb würden gründliche Nachforschungen mehrere Monate dauern.«
»Ja, das stimmt«, gestand der Friedensrichter ein.
»Falls sich Deilos und seine Anhänger auf einer dieser Inseln verbergen, müsste es Deimatos sein, das seiner Familie gehört«, sagte Kassandra. »Dort kennt er sich seit seiner frühen Kindheit aus. Außerdem findet er im Lavaboden reichlich Schwefel und die anderen Substanzen, die er für seine Verbrechen braucht.«
»Warum sitzen wir hier herum und verschwenden unsere Zeit?«, fragte Royce. »Stattdessen sollten wir uns auf Deimatos umsehen.«
» Wir? « , wiederholte Kassandra und hob die Brauen. »Gilt das auch für dich?«
»Diese Gelegenheit möchte ich nicht versäumen.«
Mit schmalen Augen starrte sie ihn. »Weil du Deilos töten willst?«
»Daraus mache ich kein Geheimnis«, erwiderte er achselzuckend.
Nachdenklich erhob sie sich von ihrem Stuhl am Fenster, ging zu Atreus' Schreibtisch und berührte ihn. Ihr Bruder hatte die Weisheit eines Erwählten – sie selbst nicht. Und sie wünschte es auch gar nicht, denn sie spielten verschiedene Rollen. Aber nun hoffte sie auf ihren eigenen Verstand. »Deilos und seine Leute sind keine ausländischen Feinde, sondern Akoraner, obwohl uns das missfällt. Also sollten wir sie so besiegen, wie es unseren Gesetzen und Traditionen entspricht. Nur dann können wir sicher sein, dass der Feind nicht länger unter uns weilt.«
Noch ehe sie verstummt war, hatte Marcellus genickt. »Was empfehlen Sie uns, Atreides?«
»Ich weiß nicht … Jedenfalls müssen wir Mut und Ge duld aufbieten. Wir dürfen nicht tun, was Deilos erwartet. Vor allem ist es unsere heilige Pflicht, an Akoras Wohl zu denken.«
»Natürlich nimmt er an, wir würden nach ihm fahnden«, meinte Royce. »Dazu sollte uns der Brandanschlag wahrscheinlich veranlassen.« Auch er stand auf und trat an Kassandras Seite. Den Ausdruck seiner Augen vermochte sie nicht zu deuten. Aber sein Lächeln jagte einen Schauer über ihren Rücken. »Er wird sich auf einen Kampf vorbereiten«, fügte er hinzu, als würde er das
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