Insel meiner Sehnsucht Roman
könnte sie jemals betrüben.
Lachend warf der Junge einen Stein empor, der durch die Luft wirbelte und irgendwo landete. Oder tauchte er ins Wasser? Das sah sie nicht, sie spürte nur die Wellen, die er in alle Richtungen sandte.
Ein Stein, in einen Teich geworfen … Darüber hatte Royce mit ihrer Mutter gesprochen – über ein Leben, das edlen Zielen diente …
Da ihr die Zeit davonlief, durfte sie nicht schlafen. Als sie die müden Augen öffnete, sah sie einen grauen Streifen am Horizont.
Nein, noch nicht! Viel zu früh … An ihren Wimpern hingen Tränen.
»Kassandra …?« Mochte seine Stimme auch schläfrig klingen – er raffte sich aus dem Nebel seiner Erschöpfung auf, weil er ihren Kummer spürte.
»Pst«, wisperte sie und streichelte sein Haar, »alles ist gut.«
Er murmelte etwas, vielleicht ihren Namen. Zärtlich nahm er sie in die Arme. An seinen warmen Körper geschmiegt, starrte sie mit großen Augen ins Leere und wünschte, der schwarzhaarige Junge würde zurückkehren. Aber er ließ sich nicht blicken.
»Möge das Glück auf eurer Seite stehen!«, rief Kassandra. In Reih und Glied am Kai postiert, nickten ihr die Männer zu. Alle waren jung, sorgfältig ausgewählt, kräftig gebaut – Krieger aus der Legion, die den Palast bewachte – Krieger, die der Gelegenheit entgegenfieberten, den Vanax zu rächen. Doch sie würden sich stets den höheren Forderungen des Rechts beugen.
Royce stand vor ihnen, im kurzen Faltenrock des akoranischen Heeres. Über der Stirn wurde sein Haar von einem dünnen Lederband zurückgehalten. Die Sonne Akoras hatte sein Gesicht noch dunkler gebräunt. An seiner schmalen Taille hing ein Schwert, die linke Hand umschloss den Griff der Waffe.
»Vielleicht hättest du deinen Spazierstock mitnehmen sollen«, meinte Kassandra leise.
Bis er sich an die Kutschenfahrt zur Londoner Residenz des Prinzregenten erinnerte, dauerte es eine kleine Weile. Dann lachte er. »Schade, dass ich nicht daran gedacht habe… Zu Hunderten hätte ich diese komischen Dinger hierher bringen müssen. Stell dir das vor – all diese tapferen Männer, mit Spazierstöcken gerüstet!«
Akoranische Krieger, die auf ein Schlachtfeld marschierten und Spazierstöcke schwangen … Über diesen grotesken Gedanken musste auch Kassandra lachen. Die Leute in ihrer Nähe schauten sie verwundert an. Sofort setzte sie wieder eine ernste Miene auf. In dieser Situation war ihre Belustigung wirklich unangebracht.
»Hoffentlich bist du vorsichtig«, seufzte sie und widerstand dem Impuls, Royces Wange zu berühren.
»Das bin ich immer.«
In seinen Augen las sie einen seltsamen Ausdruck, der sie beunruhigte. Doch er verschwand so schnell, dass sie glaubte, es wäre nur Einbildung gewesen.
So wie eh und je wechselten die Gezeiten. Den Rücken kerzengerade, stand sie da und suchte nach letzten Worten, die sie noch sagen könnte. Aber ihr fiel nichts ein. Plötzlich beugte er sich vor und küsste ihre Stirn. »Mach dir keine allzu großen Sorgen.«
Tausend Antworten lagen ihr auf der Zunge. Für keine einzige gehorchte ihr die Stimme, und sie blieb allein zurück. Reglos beobachtete sie, wie er davonsegelte.
Wieder im Palast, ging sie auf die Suche nach Amelia und fand sie in Joannas Zimmer. Seit der Explosion bei den olympischen Spielen hatte sie ihre Nichte kaum gesehen. Das Kind war inzwischen größer und viel lebhafter geworden, das Haar ein bisschen dichter.
In einem so jungen Gesicht wirkten die ursprünglich babyblauen Augen, die allmählich Joannas haselnussbraunen ähnelten, seltsam weise.
»Kann sie gut schlafen?«, stellte Kassandra die Frage, die alle neuen Mütter zu hören bekamen.
»Einigermaßen. Um Mitternacht herum erwacht sie immer noch, und wenn ich sie gestillt habe, schläft sie bis sechs. Also ist es nicht so schlimm.«
»Was für ein hübsches Baby …«
»Oh ja, zweifellos. Du vermisst Royce schon jetzt, nicht wahr?«
»Keineswegs! Nachdem er eben erst abgereist ist, warum sollte er mir jetzt schon fehlen?«
»Um Himmels willen, Kassandra, ich vermisse Alex, wenn er aus einem Zimmer geht. Glaubst du wirklich, du wärst anders?«
»Du liebst Alex.«
»Natürlich, und du liebst Royce.«
Kassandra hörte auf, ihre Nichte zu bewundern, und heuchelte maßloses Staunen. »Das habe ich nie behauptet.«
»Nur ganz selten erwähne ich die Tatsache, dass die Sonne jeden Morgen aufgeht. Aber mein Versäumnis wirkt sich nicht im Mindesten auf diese Tatsache aus.«
Nein, gewiss
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