Insel meiner Sehnsucht Roman
anschneiden? Unterhalten wir uns doch über unserer Nichte.«
»Oh ja, ist sie nicht das süßeste Baby, das du je gesehen hast?«
»Da ich bisher nur wenige Babys begutachten konnte, muss ich dir wohl zustimmen«, hänselte er sie.
»Schäm dich! Du weißt sehr gut, dass sie exquisit ist.«
»Ja, natürlich«, gab er zu und schaute sie eindringlich an.
Plötzlich gewann sie den Schwindel erregenden Eindruck, er würde zu viel in ihren Augen lesen. Der Moment war so intim, und was sie zueinander hinzog, so unbeschreiblich stark. Dagegen musste sie sich wappnen.
»Warum heißt du Kassandra?«
Sie legte ihre Gabel beiseite. Dann ergriff sie ihre Serviette und wischte sorgfältig ein paar Krümel aus ihrem Mundwinkel. »Gefällt dir der Name nicht?«
»Ein sehr schöner Name. Aber er weckt gewisse Erinnerungen – an das tragische Ende von Troja, die Prinzessin, die in eine schreckliche Zukunft blickte und nicht beachtet wurde. Zweifellos wussten das deine Eltern, als sie den Namen für dich aussuchten.«
»Oh ja, sie wussten es.«
»Warum haben sie dich trotzdem Kassandra genannt?«, wollte Royce wissen.
»Wie du vorhin betont hast, vereinen uns familiäre Bande.«
Royce schwieg und überließ es ihr zu entscheiden, ob sie das Gespräch fortsetzen wollte.
Langsam fügte sie hinzu: »Joanna kann Menschen und Dinge finden.«
»Diese Gabe besitzt sie, und dafür danke ich dem Himmel. Letztes Jahr spürte sie mich auf.«
»In unserer Familie werden die meisten Frauen mit ungewöhnlichen Talenten geboren. Nicht in jeder Generation, aber von Zeit zu Zeit. Das ist so, nicht wahr?«
»Ja, aber worauf willst du hinaus?«
»Um das Jahr 1100 kam ein Mitglied deiner Familie nach Akora.«
»Das weiß ich, denn mein Ahnherr schickte Kunstgegenstände nach Hawkforte, die immer noch in der Bibliothek verwahrt werden.«
»Er blieb auf Akora. Und weil wir unsere Geschichte sehr sorgfältig dokumentieren, wissen wir, was mit ihm geschehen ist. Seine Nachkommen leben immer noch in meinem Familienkreis.«
»Also sind wir blutsverwandt, wenn auch nur entfernt.«
» Sehr entfernt«, betonte Kassandra. »Vor etwa siebenhundert Jahren kam jene Verbindung zustande. Unser gemeinsamer Ahnherr besaß jene Gabe natürlich nicht, da sie den Frauen vorbehalten ist. Doch sie gehörte zu seinem Erbe, das ins akoranische Blut floss. Und so kommen einige seiner weiblichen Nachfahren mit dieser besonderen Fähigkeit zur Welt.«
Diesmal schwieg Royce sehr lange. Vor den Fenstern raschelten die Zweige, und die Vögel kehrten zur Nachtruhe in ihre Nester zurück. Über der Stadt brach die Dunkelheit herein.
»Kassandra«, sagte er sanft und bedeutungsvoll.
Also wusste er Bescheid, und sie seufzte erleichtert. Vor ihm musste sie nicht verbergen, was untrennbar zu ihrem Wesen gehörte. »Zunächst hieß ich anders. Erst als meine Gabe offensichtlich wurde, nannten mich meine Eltern Kassandra.«
»Kannst du wirklich in die Zukunft schauen?«
»Nein, ich sehe nur einige Möglichkeiten – verschiedene Wege, die vor uns liegen. Unser Schicksal wählen wir selbst.«
Während er nachdachte, beobachtete sie ihn, und sie erahnte den Moment, in dem ihm die Frage in den Sinn kam. »Hast du uns gesehen?«
»Nicht direkt«, entgegnete sie und hielt seinem Blick stand. »Ich weiß, das ist keine befriedigende Antwort. Und ich versuche wirklich nicht, dir auszuweichen. Aber manchmal sehe ich die Dinge ziemlich unklar.«
»Bist du deshalb enttäuscht?«
»Hin und wieder.«
»Vielleicht ist es in diesem Fall sogar vorteilhaft.« Royce erhob sich, reichte ihr die Hand und half ihr, aufzustehen. An ihren Fingern spürte sie die rauen Schwielen seiner Handfläche. Und plötzlich sah sie in ihrer Fantasie, wie er ein Schwert ergriff. »Ich finde es besser, wenn sich das künftige Geschehen mit der Zeit von selbst enthüllt, Kassandra.«
»Wie die meisten Menschen.« Erleichtert hörte sie, wie ruhig ihre Stimme klang – trotz des Aufruhrs, in den ihre Gefühle geraten waren.
»Ein ereignisreicher Tag«, meinte Royce, als sie zur Tür gingen.
Welch eine Untertreibung, dachte Kassandra.
»Jetzt solltest du dich ausruhen«, schlug er vor.
»Du auch.« Wie Joanna ihr erzählt hatte, schlief er manchmal immer noch im Freien. Würde er sich auch in dieser Nacht dazu entschließen? »Royce …«
Inzwischen hatte er ihre Hand losgelassen. Er wandte sich zu ihr. »Ja?«
»Nach deiner Rettung wurdest du nach Ilius gebracht, und da sah ich dich. Ich
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