Insel meiner Sehnsucht Roman
deshalb zu sorgen.
Nach einem tiefen, zitternden Atemzug löste er ihre Arme von seinem Nacken. »Kassandra …«
»Hm?«
»Wir – das heißt, ich hätte es nicht tun dürfen.«
Abrupt in die Wirklichkeit zurückgekehrt, schaute sie zu ihm auf. »Warum nicht?«
Erst jetzt ließ er ihre Handgelenke los. »Weil du meine Schwägerin bist und …«
»Wir sind nicht blutsverwandt, keine Apodos .«
Verwirrt hob er die Brauen. »Was bedeutet das?«
»Auf Akora heißt es ›verboten‹. Unter anderem verbindet man das Wort auch mit jenem Weg, der vom Leben in den Tod führt.«
»Und wenn sich Blutsverwandte küssen, so wie wir …«
»Das ist apodos , denn die Kinder, die aus der Inzucht hervorgehen, sind wahrscheinlich krank.«
»Deshalb heißt das akoranische Volk die Fremden willkommen, die es an ihre Küsten verschlägt.«
»Ja, das hast du in meiner Heimat herausgefunden. Aber das posaunen wir nicht in alle Welt hinaus, denn wir müssen unser kostbares Inselreich schützen.«
»Gewiss, das begreife ich. Was ich vorhin sagen wollte – da du meine Schwägerin bist, muss ich dir meinen Schutz bieten. Und es war ein Fehler, die Situation auszunutzen.«
Kassandra merkte ihm an, wie ernst er es meinte. Offenbar glaubte er tatsächlich, es wäre falsch gewesen, sie zu küssen. Das musste mit der englischen Moral zusammenhängen, von der sie gehört hatte und die in so krassem Widerspruch zum lasterhaften Verhalten der Londoner Gesellschaft stand.
»Hat es dir nicht gefallen?« Wie provozierend die Frage klang, wusste sie. Doch das kümmerte sie nicht. Nur für einen kurzen Augenblick wollte sie die schreckliche Angst abschütteln, wollte unbeschwert flirten und lachen – und Küsse genießen.
»Natürlich hat es mir gefallen. Großer Gott, wenn ich vollends die Beherrschung verloren hätte, würden wir… Schon gut, ich wollte die nur erklären, du bist ein junges Mädchen und …«
»Eine Frau.«
»Wie, bitte?«
»Ich bin eine junge Frau, kein Mädchen. Das ist ein Unterschied, nicht wahr?«
»Ja, mag sein. Aber ich wollte erklären …«
»Dass du mich nicht küssen darfst.«
»Genau.«
»Und warum nicht?«
Irritiert wich er zurück. »Weil es nicht richtig ist. Deshalb. Man kann nicht einfach herumlaufen und Frauen küssen.«
»Du bist nicht man , du bist Royce.«
»Hör mir zu, ich…« Dann verstummte er, als würde er den Sinn ihrer Worte plötzlich erkennen.
»Du musst dich für gar nichts entschuldigen«, beteuerte sie, glättete ihren Rock, der nach dem langen Tag zerknittert war, und durchquerte die Halle. Lächelnd blickte sie über die Schulter. »Wäre mir dein Kuss unangenehm gewesen, hätte ich dich daran gehindert.«
Wie sie erwartet hatte, folgte er ihr. »Wirklich?«, fragte er, während sie den kleinen Salon betraten. »Und wie hättest du das angefangen?«
Amüsiert merkte sie, dass sie seine männliche Eitelkeit verletzt hatte. »Oh, das willst du gar nicht wissen.«
»Doch. Ich bin fasziniert. Eigentlich dachte ich, auf Akora würden nur die Männer zu Kriegern ausgebildet.«
Obwohl er in scherzhaftem Ton sprach, fragte Kassandra ernsthaft: »Warum glaubst du das?«
»Weil die Männer nun mal Krieger sind.«
»Wenn ein Fremder mit feindlichen Absichten in unser Königreich eindringt, wird er feststellen, dass die Frauen ebenso erbittert kämpfen können wie die Männer. Vor niemandem würden wir kapitulieren. Die Erziehung akoranischer Mädchen ist umfangreich und anspruchsvoll. Dabei wird kein einziges Fachgebiet vernachlässigt. Zum Beispiel lernen wir, wie der menschliche Körper funktioniert.« Ohne mit der Wimper zu zucken, schaute sie in seine Augen. »Auf Akora wird Unschuld nicht mit Ignoranz verwechselt.«
»Ah, ich verstehe …«
Vermutlich noch nicht ganz, dachte Kassandra. Immerhin schien ihm aber allmählich ein Licht aufzugehen.
»Wusstest du, dass es am ganzen Körper gewisse Punkte gibt, auf die man nur drücken muss, um einem Menschen die Besinnung zu rauben?«
»Davon habe ich gehört.«
»Soll ich's dir zeigen?«
»Nein«, erwiderte er hastig. Dann überspielte er den schroffen Protest mit einem gewinnenden Lächeln. »Jetzt würde ich gern eine Tasse Tee trinken.«
»Was für eine ausgezeichnete Idee! Und vielleicht ein Frühstück? Nein, dafür ist es zu spät … Ah, Sarah – Lord Royce und ich könnten eine Stärkung gebrauchen.«
»Gewiss, Hoheit.« Ehrerbietig nickte das Dienstmädchen. »Seit dem gestrigen Abend haben Sie keinen Bissen
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