Insel meiner Sehnsucht Roman
weiß, was du durchgemacht hast.« Niemals würde sie jene bleiche, ausgemergelte Gestalt vergessen.
Seine Miene verhärtete sich, und sie fürchtete, er würde glauben, dass sie ihn bemitleidete.
»Natürlich meine ich nicht …«, begann sie.
»Schon gut. Was mir auf Akora zugestoßen ist, gehört der Vergangenheit an. Ich bin dankbar, weil ich noch lebe. Aber jenes Grauen soll mich nicht bis zu meinem letzten Atemzug verfolgen.« Lächelnd zog er ihre Hand an seine Lippen. »Oder eine der künftigen Möglichkeiten überschatten, die du vor deinem geistigen Auge siehst.«
»Nein, gewiss nicht«, flüsterte sie und versuchte, die heißen Wellen zu ignorieren, die ihren Körper durchfluteten – bereits zum zweiten Mal an diesem Tag.
6
Das letzte Licht der Abenddämmerung erlosch. Nachdem Royce das Haus verlassen hatte, blieb er stehen, holte tief Atem und hoffte, das würde ihm helfen, wieder etwas klarer zu denken.
An diesem Tag war er Onkel geworden. Darüber freute er sich. Trotzdem galten seine Gedanken der Prinzessin, die aus einem geheimnisvollen Land stammte. Sie war ungewöhnlich – sogar einzigartig. Und schön. Aber er hatte schon viele schöne Frauen gekannt. Sie besaß Geist und Humor, Anmut und ein ehrliches Wesen, lauter Eigenschaften, die er höher schätzte als äußere Vorzüge. Und doch, wie sie aussah und wie sie sich in seinen Armen anfühlte, übte eine unwiderstehliche Wirkung auf ihn aus.
Sie war seine Schwägerin, und obwohl sie betont hatte, sie seien keine Apodos , konnte er sich nur eine ernsthafte, schickliche Beziehung zu ihr vorstellen. Dafür gab es derzeit keinen Platz in seinem Leben.
Andererseits brachte sie ihn zum Lachen, und er fand es so wundervoll, mit ihr zu reden. Wenn sie von der gemeinsamen Nichte sprach, las er tiefe Liebe in ihren Augen. Schon nach wenigen Tagen hatte er ihren warmherzigen, großzügigen Charakter erkannt.
Und beim Himmel – sie konnte küssen. Stimmte es, dass sie nie zuvor einen Mann geküsst hatte? Ja, unwiderlegbar, denn Kassandra würde niemals lügen. Das würde ihr Stolz nicht zulassen. Also war es ihr erster Kuss gewesen. Bei dieser Feststellung empfand er eine absurde Freude und einen beängstigenden Besitz ergreifenden Drang.
In diesem Moment eilte sein Kutscher aus dem Hintergrund des Hauses, wo er gewiss reichlich verköstigt worden war, und rückte sein Halstuch zurecht. Die Vorreiter folgten ihm und entzündeten die Fackeln, die den Heimweg beleuchten und übles Gesindel fern halten sollten. Gleichzeitig führten einige Stallburschen die Pferde zum Wagen. Auch die Tiere waren sicher gut gefüttert worden.
Geduldig wartete Royce, bis die Männer in den Sätteln saßen, mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Er war ein Onkel. Eines Tages würde er Amelia sein Landgut Hawkforte zeigen und ihr erzählen, welcher Teil ihres Erbes von dort stammte. Sie würden an den steinernen Zinnen entlangwandern, die seit über neun Jahrhunderten emporragten – nicht so alt wie der Palast auf Akora, aber ebenso respektabel. Wenn er keine Kinder bekam, würde seine Nichte Hawkforte erben. Eine merkwürdige Vorstellung … Und noch seltsamer erschien ihm die Sehnsucht nach eigenen Nachkommen, die er plötzlich verspürte. Daran hatte er bisher nie gedacht.
Kassandra konnte in die Zukunft schauen. Nein, sie sah nur, was möglicherweise geschehen würde. Das nannte sie eine Gabe. Doch er glaubte, es wäre eher eine Last. Sie hatte nichts erblickt, was mit ihnen beiden zusammenhing, sondern etwas anderes, das sie ihm verschwieg. Davon war er fest überzeugt.
Die Stirn gerunzelt, stieg er in seine Kutsche.
Lächerlich, dass er die kurze Strecke nicht zu Fuß zurücklegte … Aber neuerdings lauerten immer schlimmere Gefahren auf den Londoner Straßen. Erst an diesem Morgen, vor dem Besuch bei Joanna und Alex, war er im Carlton House gewesen und hatte ein beunruhigendes Gerücht gehört. Angeblich wollten die Ludditen hundert Guineen für den Kopf des Prinzregenten zahlen. Großer Gott, das brachte Prinny, den ohnehin schon genug Probleme plagten, in noch größere Schwierigkeiten.
Royce verstand Alex' Wunsch, Joanna sollte nach Boswick oder Hawkforte ziehen, nur zu gut. Glücklicherweise wurden die beiden Londoner Residenzen dank der Männer, die sie hierher beordert hatten, bestens geschützt. Für die restliche Stadt galt das allerdings nicht.
Wenn der Prinzregent doch endlich aus dem Nebel seiner Drogen und seines Selbstmitleids erwachen
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