Insel meiner Sehnsucht Roman
Prinzregenten mehrmals beteuerte, er würde keine solchen Absichten hegen.«
Kassandra nickte. »Das alles verstehe ich sehr gut.«
»Hat Percevals Tod irgendetwas geändert? Oder wird Akora immer noch von einer Invasion bedroht?«
Überrascht starrte Kassandra vor sich hin. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Sie hatte die Gefahr eines Angriffs auf ihr Heimatland stets mit Deilos in Verbindung gebracht, der gestorben war – oder auch nicht. Mit Percevals Beteiligung an diesem Komplott hatte sie sich kaum befasst, wenn überhaupt. Aber falls er eine wesentliche Rolle gespielt hatte – wie würde sich sein Tod auswirken? Immerhin bestand die Möglichkeit, dass die Akoraner nichts mehr befürchten mussten. »Keine Ahnung«, antwortete sie. »Seit der Ankunft in London habe ich meine seherischen Fähigkeiten nicht mehr genutzt.«
»Dann lass es dabei bewenden.«
Ihr Bruder würde sie nicht ersuchen, in die Zukunft zu blicken, denn er wusste, wie schmerzlich und anstrengend das sein konnte. Aber sie würde gewiss nicht auf seine Bitte warten.
»Wenn ihr mich entschuldigen würdet«, sagte sie und erhob sich.
Auch die Männer standen auf, und Alex musterte sie beunruhigt. »Kassandra, du wirst doch nicht …«
»Du machst dir viel zu viele Sorgen«, unterbrach sie ihn mit einem sanften Lächeln und berührte seinen Arm.
In der Halle blieb sie stehen und lauschte auf die Geräusche des Hauses. Wahrscheinlich wanderte Elena um diese Stunde durch den Garten, und Brianna würde in der Bibliothek sitzen. Die Dienstboten würden sich in der Küche oder ihren Quartieren aufhalten. Und Mrs. Mulridge? Wo sie sich befinden mochte, konnte man nie wissen. Aber sie zog meistens ihre eigene Gesellschaft vor, wenn sie sich nicht um Joanna und Amelia kümmerte.
Joanna war mit dem Baby in ihr Schlafgemach gegangen. Also würde Kassandra niemanden im Kinderzimmer antreffen. Dort schlief Amelia noch nicht, weil ihre Eltern sie bei sich behalten wollten, bis sie die ersten Monate ihres Lebens überstanden hatte. Hin und wieder wurde sie in ihr künftiges Reich gebracht, einen sonnigen Raum voller Wandgemälde und Spielsachen, die auf ihre kleine Besitzerin warteten und glückliche Tage verhießen.
Langsam stieg Kassandra die Treppe hinauf. In einer solchen Umgebung hatte sie noch nie nach möglichen Wegen in künftige Zeiten gesucht. Aber nun fühlte sie sich dazu getrieben. Sie betrat das Zimmer und schaute sich um. An manchen Stellen war der Boden abgenutzt, wo zahlreiche Generationen von Boswick-Kindern gespielt hatten, auch ihr eigener Vater. Die hohen Fenster standen offen, und die Düfte des Gartens wehten herein. Während sie tief Luft holte, spürte sie, wie tiefer Friede in ihre Seele einkehrte.
In einer Ecke stand der mechanische Junge, an einer Wand das Spielhaus, das Amelia eines Tages mit Puppen bevölkern würde. Und davor wartete das Schaukelpferd geduldig auf die Zukunft.
Auf eine einzige Zukunft von vielen Möglichkeiten … Auf einen der gewundenen, von zahlreichen Abzweigungen durchkreuzten Wege, die Kassandra in der Ewigkeit verschwinden sah.
Nach einem weiteren Atemzug schloss sie die Augen. Ihre Hände lagen auf dem geschnitzten Fußende des Betts, in dem Amelia ihre Nächte verbringen würde. Hier, in diesem Raum, in der unbekannten Zukunft des Babys, das jetzt im Arm seiner Mutter schlief …
Ein lachendes kleines Mädchen mit honigblondem Haar und strahlenden Augen. » Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann in unserm Haus herum, bidebum. «
Eine hohe Kinderstimme …
» Runtergefallen …«
» Gib mir das, William! «
» Der mechanische Junge muss repariert werden …«
» So ein wundervoller Raum! Das Kinderzimmer, sagst du? «
Zu weit, sie war zu weit gegangen. Jetzt atmete sie stoßweise. Hinter ihren Augen wuchs eine gnadenlose Anspannung. Zurück – zurück …
Weg vom Kinderzimmer, weg vom Haus, von der Stadt … Heim – nach Akora …
Dann sah sie es, als hätte sie es nie verlassen – das tiefblaue Meer, die geschwungenen Küsten der Inseln, die blühenden Zitronenhaine – und Ilius, das glorreiche Ilius, leuchtend im Sonnenschein …
Und grelles Rot …
Obwohl Kassandra zurückschreckte, wurde sie unwiderstehlich davon angezogen.
Die rote Schlange glitt von der Küste durch die Straßen nach oben, immer höher hinauf. Unerbittlich wand sie sich empor – flatternde Banner, Männer in roten Röcken, dröhnende Trommeln, krachende Kanonen. Wie ein böses Ungeheuer wirbelte schwarzer
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