Insel meiner Sehnsucht Roman
was auch immer, sie würde nicht allein sein, Royce folgte ihr. Er schwieg, schaute sie nur an mit seinen grüngoldenen Augen, die so viel sahen. In seiner Nähe fühlte sie eine innere Unrast, die ihre Entschlossenheit gefährdete – aber nur kurzfristig.
Er begleitete sie in den Palast, in Atreus' Zimmer. Und er stand an ihrer Seite, während sie neben dem Bett ihres Bruders betete, so inbrünstig wie nie zuvor in ihrem Leben. Und er blieb bei ihr, während die Ratsherren erschienen – verdienstvolle und ehrenwerte Männer, wenn sie auch an einigen zweifelte. Mit gedämpften Stimmen bekundeten sie ihr Mitgefühl und musterten sie forschend – die Frau, die jetzt die Position des Vanax einnahm.
Nicht erwählt.
Aber vom Stamm der Atreiden …
Und später – sehr viel später, als sie vor Erschöpfung fast zusammenbrach, trug Royce sie in ihr Schlafzimmer und legte sie aufs Bett. Erst jetzt ließ sie ihren Tränen freien Lauf, und er hielt sie die ganze Nacht in den Armen, bis zum Morgengrauen.
11
Kassandra betrachtete das silberne Armband an ihrem Handgelenk. Durch die hohen Fenster fielen Sonnenstrahlen ins Zimmer, die das Metall erwärmt hatten. Oder fühlte es sich nur so an, weil sie fror? Sie hatte geschlafen – unruhig, aber immerhin – und dann gebadet und sich angezogen, gegessen und die Fragen der Leute beantwortet. Alles ganz normal … Trotzdem kam es ihr so vor, als würde ihr Herz von einem eisigen Panzer umhüllt.
Aber sie hatte geweint, also war sie fähig, Emotionen zu empfinden, sogar schmerzliche. Heiße Tränen hatte sie vergossen, obwohl ihr Inneres kalt geblieben war.
Am Vortag hatte eine Explosion die Spiele abrupt beendet. Daran musste sie sich immer wieder erinnern, denn es fiel ihr schwer, das zu begreifen.
Jemand – oder eher eine Gruppe – hatte ein Attentat auf das Zentrum von Akora verübt und gnadenlos Menschen getötet oder verstümmelt. Inzwischen war eine Nachricht an Alex abgeschickt worden. Aber es würde zehn Tage oder etwas länger dauern, bis sie ihn erreichte, und dann noch einmal so lange bis zu seiner Ankunft im Inselreich.
An diesem Nachmittag sollte ein Gottesdienst zu Ehren der Toten abgehalten werden. Natürlich würde Kassandra daran teilnehmen. Ehrengarden würden die Besucher, die außerhalb von Ilius wohnten, nach Hause begleiten. Bald würden die Rauchwolken des Bestattungsfeuers emporsteigen.
Und das Leben würde weitergehen – irgendwie.
Kassandra zwang sich, den Worten des Friedensrichters zu lauschen. Für seinen verantwortungsvollen Posten war er ziemlich jung, erst vierzig. Aber sie entsann sich, dass Atreus ihn sehr schätzte und deshalb zum ranghöchsten Justizbeamten in dem Bezirk ernannt hatte, dem Ilius angehörte.
»Mittlerweile wurde das gesamte Beweismaterial im Palast sichergestellt«, verkündete Marcellus. »Zum Glück konnte das Feuer, das infolge der Explosion ausbrach, sehr schnell gelöscht werden. Von den meisten Beweisstücken existieren nur Fragmente. Aber wir besitzen die große Metallfelge eines Wagenrads.«
»Das Metall ist stark verbogen«, ergänzte Royce, »und teilweise geschmolzen. Trotzdem lässt sich die ursprüngliche Form noch erkennen.«
Einen Großteil des Tages hatte er zusammen mit Marcellus am Schauplatz des Verbrechens verbracht. Erst nachdem man die letzten Beweisstücke gefunden hatte, war er in den Palast zurückgekehrt. Obwohl er keine offizielle Position einnahm, hatte er ohne Zögern beschlossen, die Ermittlungen zu leiten. Die Männer akzeptierten ihn – vielleicht, weil er bei den Spielen brilliert hatte oder weil er der geborene Führer war.
»Wie es Lord Hawk bereits erklärt hat«, fuhr Marcellus fort, »besitzen wir ganz zweifellos den großen Teil eines Wagens, außerdem kleinere Fragmente, die vermutlich von Fassbändern stammen.«
»Hat irgendjemand diesen Wagen gesehen?«, fragte Kassandra.
Marcellus blickte auf seine Notiztafel. »Natürlich ist die Bevölkerung eifrig bestrebt, bei den Untersuchungen mitzuhelfen. Heute nahmen meine Beamten die Aussagen von hundertzwölf Zeugen auf. Fast alle hatten die Arena an der Seite betreten, wo sich die Explosion ereignete, und sie erinnern sich an einen großen Wagen, der draußen neben der Mauer stand. Über der Ladung lag eine Plane. Die Leute haben das Fahrzeug kaum beachtet. Nur ein paar berichteten, es habe einen Teil der Straße versperrt, und so mussten sie darum herumgehen.«
»Was immer das Vehikel gezogen hat« , fügte Royce
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