Insel meiner Sehnsucht Roman
könnten ihn verlieren?«
Mit einem tiefen Atemzug zwang sie sich zur Ruhe. »Dies alles habe ich in keiner Vision erblickt.«
Forschend schaute er sie an, sie spürte seine Überraschung – sein Verständnis. »Darüber habe ich schon nachgedacht. Was hast du gesehen?«
»Wie meinst du das?«
»Irgendetwas musste in deiner Fantasie aufgetaucht sein – da bin ich mir sicher. Nichts anderes würde dein Verhalten erklären.«
»Oh …« Verzweifelt versuchte sie, Zeit zu gewinnen und sich vor diesem Mann zu schützen, der so viel über sie wusste. »Und wie verhalte ich mich?«
»Wir beide fühlen uns zueinander hingezogen.«
»Nur ein Kuss. Nicht mehr.«
»Kassandra …« Ihr Name auf seinen Lippen glich einer Liebkosung und zugleich einem Tadel. »Da ist viel mehr. Trotzdem weichst du mir aus.«
Verwirrt nahm sie Zuflucht zum einzigen Schild, hinter dem sie sich verschanzen konnte. »Ich muss meine Pflicht erfüllen.« Und bekämpfen, was ich für dich empfinde, fügte sie in Gedanken hinzu, sonst wird es mich von dem Weg ablenken, den ich gehen muss, um Akora zu retten.
»Du bist nicht verlobt.«
Hatte er sich nach ihr erkundigt? Das verblüffte und beglückte sie. Doch sie durfte ihre Freude nicht zeigen. Wenn sie sich dazu hinreißen ließ, würden jene verlockenden Gefühle womöglich den Sieg erringen. »Hast du jemals überlegt, du könntest dir nur einreden, dass uns irgendetwas verbindet?«
»Nein«, erwiderte er belustigt.
»Was ich in meinen Visionen sah, hat nichts zu bedeuten. Alle Wege, die in die Zukunft führen, sind ungewiss. Jetzt ist nur eines wichtig – Atreus muss weiterleben.«
Halb und halb erwartete sie, er würde die üblichen tröstenden Worte finden. Doch sie hätte es besser wissen müssen.
»Natürlich – Atreus Genesung ist wichtig, aber er steht nicht an erster Stelle. Ob er lebt oder stirbt – Akoras Fortbestand muss gesichert werden.«
»Das sagst du, obwohl du ein Engländer bist?«
In seinen Augen glänzten der Stolz und die Kraft seiner Herkunft. »Was du auch gesehen hast oder glaubst – nicht alle Engländer sind Akora feindlich gesinnt. Und wenn ich dich daran erinnern darf, Atreiden-Tochter – auch du bist eine halbe Engländerin.«
Damit hatte er Recht. Auch sie gehörte zu der roten Schlange, die sie gesehen hatte – die Ilius mit tödlichen Flammen bedrohen würde. Trotzdem liebte sie den Mann, der sie gezeugt hatte.
»Komm«, bat Royce und reichte ihr seine Hand. »Deine Eltern würden sich über deine Gesellschaft freuen.«
Bereitwillig folgte sie ihm und schöpfte Kraft aus seiner Nähe. Dann stand sie wieder neben dem Bett ihres Bruders, umgeben von leisen Stimmen und abgrundtiefen Ängsten. Sie kniete nieder, um zu beten. Von neuer Zuversicht erfüllt, stand sie auf.
Atreus würde leben oder sterben
Und Akora würde fortbestehen.
Nun wusste sie, was sie tun musste. Entschlossen berief sie den königlichen Rat ein.
Kassandra beobachtete die Weihrauchwolken, die zum Himmel des späten Nachmittags emporstiegen. Im großen Hof vor dem Palast war es ungewöhnlich still. Trotz der gewaltigen Menschenmenge – ein paar Tausende hatten sich am einzigen Ort auf Akora eingefunden, der so vielen Leuten Platz bot – erklang kein einziger Laut, abgesehen von den Gebeten. Nicht einmal ein schwaches Flüstern.
Allmählich näherte sich die Trauerzeremonie dem Ende. Wenn man die Toten weggebracht hatte, würde sich der Hof leeren. In der Stadt herrschten Ruhe und Ordnung. Einige Rebellen waren bereits verhaftet worden, und Marcellus hatte versichert, die restlichen würden noch vor dem Einbruch der Dunkelheit in Gefängniszellen sitzen. Damit hindert er die Bevölkerung wenigstens an der Lynchjustiz, die Kassandra befürchtet hatte.
Sie schaute zu ihrer Mutter hinüber, die erschöpft, aber gefasst wirkte. Seit man ihren verletzten Sohn in den Palast getragen hatte, war sie nicht von seiner Seite gewichen. Neben ihr stand Joanna, die Kassandras Blick mit sorgenvollen Augen erwiderte. Beide hegten den unausgesprochenen Wunsch, Alex wäre hier. Doch sie mussten noch eine Weile auf seine Ankunft warten. Vorerst konnte Kassandra nur auf Royce bauen, der sich ein paar Schritte hinter ihr postiert hatte. Obwohl sie ihn nicht sah, fand sie seine Nähe tröstlich.
Während die Priester und Priesterinnen das letzte Gebet sprachen, das die Hoffnung auf Erlösung und ewiges Leben ausdrückte, ertönte ein Gong. Sanft und melodisch hallte der Klang von den
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