Insel meiner Sehnsucht Roman
gekommen war.
Mehrere Männer umringten ihn und versperrten Kassandra die Sicht. Aufgeregt trat sie näher.
Was sie beobachtete, schien verlangsamt zu geschehen, so wie alles seit der Katastrophe – so als hätte die einstürzende Mauer auch die Zeit unter sich begraben. Elena rannte an Kassandra vorbei. Aber Brianna blieb neben ihr stehen und berührte ihren Arm. »Prinzessin …« begann sie mit bebender Stimme. »Was ist geschehen?«
»Das weiß ich nicht.« Die junge Frau sah so elend aus, dass Kassandra ihr Trost spenden wollte.
Doch da schrien die Männer auf. Sekunden später wurde eine reglose Gestalt aus dem Schutt gezogen. Eisige Kälte erfüllte Kassandras Herz und zwang sie beinahe in die Knie. Für einen schrecklichen, schwarzen Augenblick verlor sie fast die Besinnung.
Als sie wieder etwas klarer denken konnte, umklammerte sie die Schulter der schwankenden Brianna. Nur mühsam hielt sich das Mädchen auf den Beinen.
»Atreus«, wisperte Kassandra. Mehr brachte sie nicht hervor. In diesem Namen hallten ihr ganzes Entsetzen, ihre Qualen und ihre Liebe wider.
Mit Blut und Schmutz befleckt, hob ein halbes Dutzend Männer die schlaffe Gestalt hoch und bildete eine Ehrengarde. Die Menge wich schweigend zurück, als sie ihre kostbare Bürde davontrugen. In der gespenstischen Stille erklang nur das Schluchzen verängstigter Kinder.
Der Vanax von Akora wurde zu einem Zelt gebracht, das man hastig am Rand der Sandbahn errichtet hatte, und Kassandra folgte den Männern, obwohl sie ihre Beine nicht spürte und nicht wusste, wieso sie sich bewegen konnte. Offenbar war es reine Verzweiflung, die sie vorantrieb. Die Leute erkannten sie, machten ihr Platz, und einige murmelten tröstliche Worte. Doch die meisten waren zu entsetzt, um irgendetwas zu sagen.
Als sie das Zelt betrat, wurde Atreus gerade auf einen Tisch gelegt. Staub bedeckte sein Haar und die Haut. Trotzdem sah sie die hellroten Wunden viel zu deutlich. An seiner Stirn klebte verkrustetes Blut. Bewegungslos lag er da. In kleinen Gruppen standen die Männer in seiner Nähe, keiner sprach, und sie wagten kaum zu atmen.
Elena untersuchte ihn. Nach einer scheinbaren Ewigkeit verkündete sie: »Er lebt.« Bevor irgendjemand Erleichterung empfinden konnte, fügte sie hinzu: »Leider ist er schwer verletzt.«
Gedämpfte Stimmung erfüllte das Zelt. Dann wurden die Akoraner, die draußen warteten, über den Zustand des Vanax informiert. Immer noch dieses grauenhafte, eisige Gefühl in der Brust, stellte sich Kassandra vor, wie man die Neuigkeit in den Straßen der Stadt verbreiten würde, über die Berge und das Binnenmeer hinweg, in ganz Akora, über die Grenzen des Königreichs hinaus.
Bis nach England?
Der Vanax war verwundet – und mit ihm auch sein Inselreich. Könnten seine Feinde eine bessere Gelegenheit finden, um ihn anzugreifen?
War dies die Ursache ihrer wieder erwachten Tagträume von einer drohenden Invasion? Vielleicht … Ihr Gewissen peinigte sie. Warum war es ihr nicht gelungen, die Gefahr, die dem geliebten Bruder drohte, rechtzeitig zu erkennen? Das verstand sie nicht.
Und sie konnte ihm auch nicht helfen, so sehr sie es auch wünschte. Elena und einige andere Heilkundige begannen, ihn zu behandeln. Alles, was in ihrer Macht stand, würden sie für ihn tun. Doch letzten Endes würde seine Genesung von seiner Kraft und den Launen des Schicksals abhängen.
Die Arme vor der Brust verschränkt, suchte sie die Kälte in ihrem Inneren zu bekämpfen und taumelte aus dem Zelt. Ihre Gedanken kreisten unablässig um qualvolle Schuldgefühle. Wenn sie ihre Visionen öfter heraufbeschworen und klarer gesehen hätte, wenn sie klüger gewesen wäre, und wenn – wenn… Irgendwie hätte sie die Tragödie verhindern müssen. Doch sie hatte kläglich versagt, aus keinem ersichtlichen Grund. Hinter ihren Augen brannten Tränen, die sie nicht vergoss.
Nein, sie durfte nicht weinen. In ihrer Seele regte sich die unbeugsame Stärke zahlreicher Generationen. Noch eine Niederlage würde sie nicht erleiden.
Eine Zeit lang blieb sie stehen und beobachtete, wie weitere Verwundete aus dem Schutt geborgen und der Obhut mehrerer Heilkundiger anvertraut wurden. Ein paar Männer trugen die Toten weg. Unterdessen studierten Royce und einige Akoraner die Trümmer, suchten verschieden Steine aus und legten sie sorgsam beiseite.
Was taten sie? Kassandra ging zu ihnen. Sie kannte zwei oder drei Baumeister, die für die Instandhaltung von Gebäuden, Straßen
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