Insel meiner Sehnsucht Roman
wichtig. Deshalb haben sie in seiner Nähe Zuflucht gesucht.«
»Gibt es da drinnen Statuen von Göttern und Göttinnen?«
Einige Sekunden lang zögerte sie. Oder bildete er sich das nur ein? Dann stand sie auf und ergriff seine Hand. »Ich zeige dir, was sich darin befindet.«
Seite an Seite betraten sie den Tempel, in dem die stille Luft nach unermesslichem Alter roch. Mit anderen Worten konnte Royce nicht beschreiben, welchen Endruck er gewann. Was würde er sehen? Auf fast alles war er vorbereitet. Trotzdem machte er vor Verblüffung große Augen. »Was ist das?«
»Ein Gesicht. Ob männlich oder weiblich, wissen wir nicht. Es wurde vor so langer Zeit in den Stein gemeißelt, dass sich die Züge verwischt haben. Aber sie sind immer noch zu erkennen.«
Über die Skulptur rann Wasser und bewegte das Moos, das aus allen Felsenritzen wuchs. Unentwegt, in rhythmischem Wechsel, schien das Gesicht emporzutauchen und wieder zu versinken.
»Dieses Wasser wird hoch geschätzt«, sagte Kassandra. »Bis zum heutigen Tag füllen wir Krüge damit und tragen es in die Tempel, um es segnen zu lassen.« Sie schaute ihn an. Ein wenig unsicher, dachte er. Doch was er zu beobachten glaubte, verflog so schnell wie vorhin ihr Zaudern. Dann bückte sie sich, schöpfte eine Hand voll glitzerndes Wasser und trank es in durstigen Zügen.
Kühl, klar und makellos rein rann das Wasser durch ihre Kehle hinab. Sie nahm noch einen Schluck und spürte, wie sich die Anspannung in ihrem Körper lockerte – zunächst fast unmerklich. Doch sie fühlte schon bald, dass sie wieder zu Kräften kam.
»Möchtest du's kosten?«, schlug sie vor.
Als er sich hinabneigte, streckte sie beinahe eine Hand aus, um ihn zurückzuhalten. Im letzten Moment besann sie sich anders. Er hatte einen starken Charakter. Also würde er selbst entscheiden, was geschehen sollte. Und das Wasser würde ihn nur – bestärken.
Seit Jahrtausenden tranken akoranische Ehepaare in ihrer Hochzeitsnacht einen Krug Wasser aus dem verschütteten Tempel. Und wenn alte Eheleute viele Jahre später im Sonnenschein saßen, dachten sie daran, wechselten zärtliche Blicke und erinnerten sich an die einstige Leidenschaft.
Aber vielleicht gehörte dies alles ins Reich der Legende, und das Wasser bewirkte gar nichts. An diesen Gedanken klammerte sich Kassandra, weil er ihr Gewissen erleichterte. Doch die Hitze, die plötzlich durch ihre Adern strömte, schien sie eines Besseren zu belehren.
Mit großen Augen starrte sie Royce an, während er das Mineralwasser trank, und beobachtete glänzende Tropfen, die an seinem Hals hinabrieselten. Welch ein wunderbarer Mann, perfekt in Körper und Geist … Die Erinnerung an seine Darbietungen im Stadion, an seine kraftvolle, spärlich bekleidete Gestalt auf dem Pferderücken, das Muskelspiel beim Speerwerfen verfolgte sie unablässig.
Seit damals lebte sie in einem Albtraum. Atreus – die Gefahr, die Akora drohte – ihr eigener Tod, der Preis, den sie zahlen musste, um ihre Familie und ihre Heimat zu retten… Dies alles stürmte manchmal so machtvoll auf sie ein, dass sie kaum atmen konnte.
Und nun sah sie in Royces geliebtem Gesicht die Vision einer Zukunft, die sie ersehnte, aber niemals erleben würde.
War es denn verwerflich, in der flüchtigen Gegenwart ein kurzes Glück zu suchen?
Sie schöpfte wieder Wasser mit der hohlen Hand, nahm einen Schluck, und Royce folgte ihrem Beispiel.
Nie zuvor hatte er so köstliches Wasser getrunken. Als er tief Luft holte, stieg ihm der Duft von Zitronen und Jasmin in die Nase. Diesen Duft kannte er bereits, denn er haftete an Kassandras Haut.
An ihrer seidigen, glatten Haut … Würde sie sich so kalt anfühlen wie vorhin? Oder warm, hier unten – im tiefen Schoß der Erde?
Das musste er herausfinden.
Behutsam glitten seine Finger über ihre Wange. Ihre langen Wimpern senkten und hoben sich, und er schaute in unergründliche Augen.
»Royce …«
»Still«, flüsterte er und umarmte sie.
Ihr Körper presste sich an seinen, ihre Lippen öffneten sich, nahmen seine Zunge auf, die ihren Mund hungrig erforschte.
Obwohl Royce wusste, dass er langsam vorgehen musste, gelang es ihm nicht. Zu lange hatte er gewartet, nicht nur Wochen, sondern Ewigkeiten – einen Zeitraum ohne Anfang und Ende, und die Zeit schien nur mit einem Ziel vergangenen zu sein, dem Ziel dieses Augenblicks.
Erkannte auch Kassandra, dass dieser Moment unweigerlich kommen musste? Ahnte sie es seit jenem nebligen Londoner
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