Insel meiner Traeume
sollte sein Entschluss eigentlich feststehen.
So war es nicht, und seine Skepsis verriet ihm, dass er auch weiterhin Gefahr laufen würde, der lockenden Anfechtung zu erliegen. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete die Wand über Joannas Schulter - irgendetwas, das ihn von ihrer betörenden Nähe ablenkte. »Kannst du etwas genauer herausfinden, wo dein Bruder gefangen gehalten wird?«
»Das will ich versuchen.« An ihrer Wange - ihrer anscheinend überempfindlichen Haut spürte sie immer noch die Liebkosung seiner Finger. Viel zu verführerisch durchfuhr ein wohliger Schauer ihren Körper... »Ich muss mich in aller Ruhe konzentrieren - völlig ungestört.« Hoffentlich würde er diesen Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und sie allein lassen, damit sie Zeit fand, sich zu fassen.
Aber er entfernte sich nicht. Stattdessen erklärte er: »In diesem Palast gibt es einen Raum, den Kassandra manchmal benutzt, wenn sie Visionen heraufbeschwören möchte. Sie meint, dort würde eine hilfreiche Aura herrschen. Vielleicht wird dich das ebenfalls anregen.«
Joannas Neugier siegte über alle Bedenken. Außerdem wollte sie vor nichts zurückschrecken, was sie möglicherweise zum angestrebten Ziel führen würde. Mit sechs Jahren hatte sie den kleinen Sohn des Müllers mühelos aufgespürt. Und danach war bis zum Verschwinden ihres Bru-ders nichts mehr geschehen, was ihre Fähigkeiten auf eine harte Probe gestellt hätte.
Nun würde sie jedes Hilfsmittel willkommen heißen. Ganz selbstverständlich fand sie Zeitungen und Maßbänder. Aber wenn es um Royces Aufenthaltsort ging, versagte ihr Talent schon seit Monaten. »Diesen Raum würde ich gern sehen.«
Er schaute sich um, entdeckte ein dunkelblaues Cape, das Sida zusammen mit weiteren neuen Kleidungsstücken ins Schlafzimmer gebracht hatte, und legte es um Joannas Schultern. Dabei spürte er, wie sie sich versteifte, und er zog seine Hände sofort zurück.
»Hier entlang.« Er schob den Vorhang des Torbogens zur Seite und ließ ihr den Vortritt.
Hastig ging sie an ihm vorbei und raffte den Umhang am Hals zusammen, als könnte sie sich darin verstecken. Welch eine alberne Illusion - noch nie im Leben hatte sie sich so ausgeliefert gefühlt...
Durch die Fenster in den dicken Mauern des Privatkorridors strömte genug Licht herein, sodass sie ihre Umgebung deutlich sah. Anscheinend nahm der Flur die gesamte Länge eines Palastflügels ein. Am anderen Ende, fast außerhalb ihres Blickfelds, glaubte sie einen Eingang zu erkennen. Und auf halbem Weg, zwischen einem weiteren Torbogen und Alex’ Suite, befand sich eine Nische, etwa so groß und breit wie ein kräftig gebauter Mann.
Von hier aus stiegen sie eine Wendeltreppe zu einem kleinen Absatz hinunter, wo Alex auf eine Tür zeigte. »Jetzt sind wir im Erdgeschoss. Hinter dieser Tür führt eine Gasse zur Stadt.«
Er nahm eine Laterne von einem Haken neben der Tür, zündete sie an und setzte den Weg nach unten fort. Vorsichtig folgte ihm Joanna. Im unheimlichen Halbdunkel er-schien ihr die sonnige Suite, die sie soeben verlassen hatte, attraktiver denn je. Kalte Luft wehte ihr entgegen, und sie streifte die Kapuze des Umhangs über ihren Kopf.
»Wo sind wir?«, fragte sie nach ein paar Minuten. Hohl und geisterhaft hallte ihre Stimme durch das enge Treppenhaus.
»Gleich werden wir die Höhlen unter dem Palast erreichen.«
Sie starrte Alex’ breiten Rücken an und bemühte sich, nicht zu frösteln. In der Nähe von Hawkforte gab es ebenfalls unterirdische Höhlen, und es war Joanna und Royce streng verboten worden, sie zu erforschen. Natürlich hatten sie es trotzdem getan. Aber vernünftigerweise waren sie nur so weit in die Finsternis eingedrungen, bis sie jenen reizvollen Kitzel des Grauens gefühlt hatten, den Kinder so liebten.
Hier sah es anders aus. Immer tiefer stieg sie hinter Alex in eine unterirdische Region hinab, und der Palast schien bereits in weiter Ferne zu liegen. Außer den Schritten auf den steinernen Stufen war nichts zu hören. Als sie plötzlich ein Ende fanden, schluckte sie krampfhaft. Am Fuß der Wendeltreppe - irgendwann in längst vergangenen Zeiten errichtet? - spürte Joanna kalte, feuchte Erde durch die dünnen Sohlen ihrer Sandalen. Nur ein schwacher Lichtkreis erhellte die gespenstische Finsternis.
»Also, ich glaube wirklich nicht...«
»Hier hinein.« Alex bückte sich, trat durch eine Öffnung in der Höhlenwand, und Joanna blieb ihm nur auf den Fersen, weil sie sonst im
Weitere Kostenlose Bücher