Inselkoller
beleidigt.
Dann war da das ›Mäeders‹, ein vergrößertes
Bistro mit leichter Kost aus Meer und Gemüsegarten. Es lag gut 100 Schritte weiter,
im Parterre des letzten der fünf Türme des Hafenkontors. Das jugendliche Personal
verströmte das Flair von Wellenreitern, Kitesurfern und Beachvolleyballern. Aus
der Höhe dieser studentisch angehauchten Amateure mussten die verkehrt eingedeckten
Bestecke und die falsch arrangierten Läufer auf den Tischen einfach übersehen werden.
Er fühlte sich hier wie ein Trottel, dessen Knete abgegriffen wird, und nicht wie
ein Gast, dessen kleiner Hunger zu Mittag ein solides Handwerk in Küche und Speiseraum
in Gang setzte.
Er verzichtete gerne aufs Mittagessen und schlenderte
am Bellevue vorbei in Richtung Hafenkontor. Als er vorhin die Polizei-Inspektion
verlassen hatte, war er überrascht gewesen, wie warm es geworden war. Die Temperaturen
mussten bei 30 Grad liegen. Die feuchte Wärme drückte auf sein Wohlbefinden. Er
fühlte, wie ihm der erste Schweiß den Rücken herunterlief, und er ließ sich auf
einer der Bänke an den Bootsstegen nieder.
Jung lehnte sich zurück. Er fluchte innerlich,
weil er die schlechte Angewohnheit hatte, seine Sonnenbrillen überall liegen zu
lassen. Jetzt hätte er eine gebraucht. So kniff er die Augen zusammen und plierte
auf die vor ihm liegenden Boote und die wenigen Passanten und Radfahrer.
Wie sollte er am besten vorgehen? Der Fall
war nicht gelöst worden. Der Reichtum der Ermordeten hatte mit Sicherheit eine umfangreiche,
akribische Spurensicherung und eine weitreichende Ermittlungstätigkeit ausgelöst.
Die auf seinem Schreibtisch liegenden Akten zeugten davon. Die daraus abgeleiteten
Schlüsse führten ganz offensichtlich ins Leere. Die Indizien, die zu dem oder den
Tätern hätten führen können, waren bis jetzt zu spärlich. Er war sich ziemlich sicher,
dass die Unterlagen fehlerfrei waren. Das Studium ähnlicher Fälle aus der Vergangenheit
hatte das immer wieder bestätigt. Da war es naheliegend, sich erst einmal die detaillierte
Analyse der Ermittlungsunterlagen zu schenken, um sich den unvoreingenommenen Blick
nicht zu verstellen.
Seine Vorsicht riet ihm, sich mit jemandem
zu besprechen, dem er vertraute. Nicht mit Holtgreve, das stand für ihn fest. Holtgreve
leitete seine Leute, aber besprach sich nicht mit ihnen. Es musste jemand sein,
der Erfahrung hatte und dem Dienst nicht verpflichtet war, der außerhalb stand und
keine Rücksichten und Vorsichten walten lassen musste.
Jung fiel sein Kollege Klaus Boll ein, der
vor einiger Zeit, frühzeitig verbraucht, in den Ruhestand geflüchtet war. Sie hatten
sich gut verstanden. Ihre Wertschätzung gründete sich nicht in erster Linie auf
die gegenseitige Anerkennung ihrer Arbeit, sondern leitete sich ab aus gemeinsamen
Vorlieben für den verbleibenden Rest: an erster Stelle essen und trinken. Boll musste
jetzt schon lange genug aus dem Dienst sein, um sich unbelastet einem Fall widmen
zu können, an den er seine aus unzähligen Ermittlungen angehäufte Erfahrung verschwenden
konnte. Das musste ihm einfach Spaß machen. Jung beschloss, ihn heute anzurufen
und um eine Unterredung zu bitten.
Er erhob sich etwas mühsam von seiner Bank.
Der Weg zu seinem Schreibtisch erschien ihm lang. Die drückende Hitze hatte noch
zugenommen, und Jung war schließlich froh, in die Kühle des Treppenhauses der Polizei-Inspektion
eintauchen zu können.
Der Gerichtsmediziner
In seinem Büro suchte Jung als Erstes Bolls Telefonnummer heraus. Sie
war noch nicht von der Telefonliste der Mitarbeiter der Polizei-Inspektion gestrichen
worden. Nach einiger Zeit meldete sich der Anrufbeantworter. Jung bat um Rückruf
und hängte wieder ein.
Sein Blick schweifte aus dem Fenster über die
Hafenspitze auf das von der Sonne angestrahlte Ostufer. Er fragte sich, ob er seine
Zeit nicht besser verbringen könnte als mit der Aufklärung des Todes einer alten,
dicken Frau. Schließlich wirst du dafür bezahlt, also mach dich an die Arbeit und
verschwende nicht deine Zeit, ermahnte er sich. Er meldete sich beim Gerichtsmediziner,
um Näheres über Strychnin zu erfahren.
»Endert.«
»Hallo, Dr. Endert, Jung hier.«
»Ha, das ist ja eine Überraschung. Wie komme
ich zu dieser Ehre, verehrter Herr Kollege? Ist was mit Oma oder ist der Leitende
zu feige und schickt Sie vor?«
Endert stand mit allen Vorgesetzten auf Kriegsfuß.
Sie waren in seinen Augen allesamt dumm und erfüllten damit die nötige, wenn
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