Inselkoller
sich, Endert auf eine zunehmend sachliche Gesprächsebene
gebracht zu haben.
»So kann man es ausdrücken. Ich gebe aber zu
bedenken, dass der Mensch an sich am Leben hängt. Und ihr Leben war ja äußerlich
betrachtet durchaus komfortabel. Wie sagt man doch so treffend: Die Hoffnung stirbt
zuletzt. Auf der anderen Seite kann ein mutmaßlicher Mörder ihr nicht sehr nahegestanden
haben, denn sonst hätte er sich die Mühe ersparen können. Es sei denn, er stand
unter Zeitdruck und wollte nicht warten.«
»Das ist ein interessanter Hinweis«, lobte
Jung, um Endert noch etwas bei Laune zu halten. »Aber wie kam die Mendel oder der
Mörder an das Gift? Haben Sie dazu eine Vermutung?«
»Tja, mein Lieber, das herauszufinden, ist
ja wohl Ihre Aufgabe. Und nebenbei, es könnte auch eine Mörderin sein.«
»Richtig, richtig, Herr Kollege. Sie sind der
bessere Kriminalist, wie mir scheint«, lenkte Jung ein und lächelte, weil Endert
mal wieder klarmachte, was sie alle an ihm so schätzten.
»Ich kann nur sagen, dass ich während meiner
gesamten Karriere als Gerichtsmediziner nie mit dem Zeug in Berührung gekommen bin
und auch nicht von Kollegen gehört habe, sie hätten mit Strychnin zu tun gehabt«,
fuhr Endert ungerührt fort. »Ich weiß, dass es vor ewigen Zeiten als Rattengift
eingesetzt wurde, aber schnell aus der Mode kam. Jetzt steht es noch auf der Dopingliste,
was ja nicht einer gewissen Ironie entbehrt. Aber da hat man wohl eher an homöopathische
Dosen gedacht, denn in der Homöopathie ist es noch sehr beliebt.«
»Herr Kollege, danke für Ihre Hilfe. Sie haben
mir da ein paar interessante Sachen erzählt. Ich werde dem nachgehen. Nochmals vielen
Dank, und ich verspreche Ihnen, den Chef nicht von Ihnen zu grüßen, wenn ich ihn
sehe«, ulkte Jung und hielt das Gespräch damit für beendet.
»Geben Sie ihm einen Schlag auf den Hinterkopf,
das fördert das Denkvermögen. Ach, lassen Sie es lieber, ist ja eh umsonst. Tschüss,
bis irgendwann einmal. Immer zu Ihren Diensten, werter Kollege.«
Jung hörte ein Klicken in der Leitung. Er sah
den Hörer einen Moment sinnend an und legte auf. Der Hausarzt aus Flensburg, warum
nicht aus Westerland, Kampen, Wenningstedt oder sonst wo auf der Insel? Vielleicht
gab es einen ganz einfachen Grund dafür. Er würde der Sache nachgehen müssen.
Das Gespräch mit Endert hatte gerade geendet,
da klingelte sein Telefon. Boll meldete sich auf der anderen Seite.
»Hallo, Tomas, hier Klaus. Du hast um meinen
Rückruf gebeten. Ich bin schon ganz gespannt. Was ist denn los, dass du einen alten
Knochen aus seinem Bau scheuchst?«
»Hallo, Klaus, prima, dich so schnell am Apparat
zu haben. Ich hab ein Attentat auf dich vor, also wappne dich mit Stärke und Geduld.«
»Das klingt ja spannend. Ich hoffe, es wird
nicht allzu schlimm. Ich hab mich schon ans Altenteil gewöhnt und finde es ganz
schön, vor allem sehr gesund.«
»Keine Angst, es geht um Folgendes: Ich hab
hier einen Fall auf den Tisch bekommen, den ich gerne mit jemandem besprechen möchte,
der kompetent ist, aber der Firma nicht angehört. Es wird von oben mächtig Druck
gemacht, von wegen Diskretion, Geräuschlosigkeit, na, du weißt schon, wie das nach
unten weitergegeben wird. Es ist viel Geld im Spiel, und die Chance, in die Scheiße
zu treten, ist mächtig groß.«
»Und da hast du an mich gedacht?«, unterbrach
ihn Boll. »Ich hatte immer den Eindruck, dass dir meine Arbeit nicht gerade imponiert
hat.«
»Dein Eindruck trifft die Sache nicht ganz.
Im Übrigen beruht das ja auf Gegenseitigkeit, oder nicht?«
»Lassen wir das. Ich kann nur sagen, ich hab
dich immer für deine Haltung bewundert. Bisweilen bist du etwas übers Ziel hinausgeschossen.
Einen Hang zum Masochismus musste man bei dir schon fast befürchten. Aber es hatte
was. Am Schluss bist du eingebrochen. Aber wir werden alle irgendwann älter und
mürber, mein Lieber.«
»Wäre schön gewesen, du hättest mir das bei
Gelegenheit gesagt«, bemerkte Jung mit leichtem Vorwurf in der Stimme. »Egal, hast
du Lust, dich mit mir, ich will mal sagen, kriminalistisch zu unterhalten? Du hast
Erfahrung, und ich schätze deinen Wein«, schmeichelte Jung ihm unverblümt.
»Klar hab ich Lust. Ich fahre allerdings morgen
für vier Wochen in den Süden. Das müsste heute noch stattfinden. Ich habe Zeit.
Ulla ist außer Haus, um letzte Besorgungen vor dem Urlaub zu erledigen. Wir wären
allein und ungestört. Und was den Wein anbelangt, ich hab noch
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